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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanova
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ausgerechnet da, wo man es am meisten sah. Nicht Bäume und Blumen dominierten in dieser Dürreperiode das Grundstück, sondern die Gebäude. Und davon gab es eine ganze Reihe, alle sehr solide und kompakt: außer dem Haus selbst noch ein Sportsaal mit einem kleinen überdachten Swimmingpool, eine Sauna, ein Gewächshaus, ein verglaster, überdachter Pavillon und eine geduckte kleine Hauskapelle aus rotem Backstein.
    Der Wachmann bat sie, ein Weilchen zu warten, und sie standen etwa zehn Minuten mitten auf dem Hof in der sengenden Sonne. Dann kam Gussarow zu ihnen heraus, braungebrannt, mit nassen, glatt gebürsteten Haaren – er hatte offenbar gerade ein Bad im Swimmingpool genommen –, bekleidet mit einem schwarzen japanischen Kimono, auf den mit weißer Seide die japanischen Schriftzeichen für Erfolg auf Brust und Rücken gestickt waren.
    Nikita empfand sofort brennende Enttäuschung. Gussarows Aussehen passte so gar nicht zu einem infernalischen Schurken. Im Leben, anders als im Fernsehen, war er lächerlich kurz geraten, stämmig und rund, mit einem selbst durch den sackartig weiten Kimono deutlich sichtbaren Bierbauch und schütterem Haupthaar. Nikita stellte sich unwillkürlich diesen Pinguin zusammen mit Aurora vor. Seltsamerweise war es gar kein so disharmonisches Bild. Gussarow und Aurora mit ihren übertrieben jugendlichen Jeans und Tops, Ringen, Ketten und Armbändern passten eigentlich sogar ganz gut zusammen.
    »Sie wollen zu mir? Von der Kripo? Ich habe doch eben erst einen Anruf von der Staatsanwaltschaft erhalten. Ein gewisser Krasnowski, Untersuchungsführer, will mich sprechen.« Gussarows Stimme war ungeachtet seiner geringen Größe tief und männlich. »Was ist denn jetzt schon wieder los? Bitte sehr.« Mit energischer Handbewegung dirigierte er sie zu dem verglasten Pavillon, in dem außer einem Billardtisch nur noch ein paar Korbsessel aus Rattan standen.
    »Wir kommen im Zusammenhang mit den Mordfällen, bei denen Ihre Frau eine der Hauptzeuginnen ist«, sagte Kolossow.
    »Meine Ex-Frau«, korrigierte ihn Gussarow sofort. »Wir sind geschieden. Aber das ist Ihnen sicher bekannt. Alle Klatschblätter schreiben ja seit Monaten über nichts anderes.« Er wollte noch etwas sagen, verstummte aber plötzlich, denn in der Tür des Pavillons tauchte ein junges Geschöpf von höchstens siebzehn Jahren auf – ein schlankes, sonnengebräuntes Mädchen mit dunklem, jungenhaft kurz geschnittenem Haar, dabei aber so elegant und nachlässig-absichtsvoll knapp bekleidet, dass sofort alles klar war.
    »Polina, ich bin beschäftigt. Siehst du denn nicht, dass ich Gäste habe«, sagte Gussarow ärgerlich.
    Das Geschöpf zuckte seine schmalen Schultern und trat rasch den Rückzug an.
    »Soll das heißen, Aurora will mich in den Mord an ihrem Galan hineinziehen?«, erkundigte sich Gussarow und zündete sich eine Pfeife an. Er sah dabei ziemlich komisch aus.
    »Sie wissen also schon von Studnjows Tod«, sagte Kolossow. »Gut, das spart uns eine Menge Zeit. Ich brauche Sie dann ja nicht zu fragen, wer Studnjow war und in welcher Beziehung Sie zu ihm standen. Diese ganze Routine können wir uns schenken. Aber außer dem Freund Ihrer Frau sind noch zwei weitere Menschen ermordet worden – eine Kellnerin aus dem Restaurant ›Al-Maghrib‹ und ein gewisser Pjotr Mochow. Ist dieser Name Ihnen bekannt?«
    »Hab von ihm gehört.«
    »Waren Sie mal im ›Al-Maghrib‹?«, mischte sich Lessopowalow ein.
    »Auch das.« Gussarows Gesicht verschwand hinter Wolken von Tabakrauch. Wieder empfand Kolossow ein seltsames Gefühl von Unwirklichkeit: Dieser Mann sitzt hier vor ihm, er könnte ihn mit der Hand berühren, und trotzdem ist er eine reine Abstraktion. So geht es einem, dachte er, wenn in einem Fall mit drei Giftmorden jeder konkrete Schuldbeweis fehlt. Es existiert zwar ein Tatverdächtiger, aber er ist im Grunde nur ein Phantom . . .
    »Sie haben mir noch keine Antwort gegeben«, bemerkte Gussarow nervös. »Kommen Sie etwa auf Anregung meiner ehemaligen Gattin zu mir?«
    Nikita hätte antworten können, nein, wir selber haben beschlossen, Sie zu befragen, was immerhin die halbe Wahrheit gewesen wäre. Aber er wollte nicht bestreiten, was augenfällig war.
    »Der Mord an Maxim Studnjow hat Ihre Frau sehr erschreckt«, sagte er. »Ich habe mehrere Male mit ihr gesprochen, und bei mir hat sich der Eindruck gefestigt, dass . . . ihre Angst zum Teil mit Ihnen zusammenhängt.«
    »Aurora sollte zum Psychiater gehen und

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