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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanova
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wird sie es bald bitter bereuen, überhaupt geboren worden zu sein!«
    Er schrie das alles voller Erbitterung heraus und . . . hielt plötzlich inne. Ihm wurde bewusst, was er in der Hitze des Gefechts vollständig aus den Augen verloren hatte – dass diesmal nicht die Anwälte seiner Ex-Frau vor ihm standen, sondern die Vertreter einer ganz anderen Institution.
    »Ja, also dann«, sagte Lessopowalow nach einer Pause gewichtig. »Übrigens haben wir ganz vergessen, Ihnen zu sagen – unser Gespräch wird aufgezeichnet.« Er öffnete sein Jackett und zeigte Gussarow das Diktaphon, das in der Innentasche steckte. »Eine Frage noch im Zusammenhang mit der Drohung, die Sie gerade an die Adresse Ihrer früheren Frau gerichtet haben – ist Ihnen als studiertem Chemiker ein Präparat namens Thalliumsulfat bekannt?«
    »Wissen Sie, ich hab’s mir anders überlegt«, sagte Gussarow nach einer ziemlich langen Pause heiser. »Was meinen Anwalt betrifft. Ich möchte doch lieber, dass er dabei ist. Bei meiner Frau muss ich mit allem rechnen, mit jeder Gemeinheit. Ich habe nichts verbrochen. Aber ich habe das Gefühl, dass es für mich so besser ist.«
    »Vielleicht«, sagte Kolossow. »Rufen Sie Ihren Anwalt an. Und ein Rat von mir – in der nächsten Zeit sollten Sie auf plötzliche Auslandstrips besser verzichten. Wir warten im Wagen, bis Sie sich angezogen haben.«

31
    Mitten im hektischen Mittagsbetrieb kamen über Lautsprecher plötzlich zehn Bestellungen für Harira, die berühmte marokkanische Suppe. Eine Busladung mit deutschen Touristen war im »Al-Maghrib« eingetroffen. Sie hatten sich die Sehenswürdigkeiten Moskaus angeschaut, vom Kreml bis zur nahe gelegenen Datscha Stalins in Kunzewo, waren anschließend auf die Sperlingsberge gefahren und wollten danach zu Mittag essen. Der Reiseführer, ein guter alter Bekannter von Maria Potechina, hatte den Deutschen vorgeschlagen, diese »wunderbare, einzigartige Oase des Orients mitten im Herzen der russischen Hauptstadt« zu besuchen und die ganze Gruppe schnurstracks zum »Al-Maghrib« befördert. Er machte so etwas dauernd und bekam von Maria dafür eine gute Provision. Deutsche bestellten immer eine Vorspeise, wie Chefkoch Poljakow schon vor langem festgestellt hatte. Und Harira war unter den Vorspeisen eine echte Perle.
    In einer riesigen vernickelten Kasserolle köchelte die Bouillon aus Hammelknochen. In einem anderen Topf schmorte in Olivenöl eine Sauce aus Tomaten und Knoblauch, in einer Pfanne brutzelten in ausgelassener Butter zarte Frikadellen aus frischem Hammelhackfleisch.
    Poljakow schnitt auf der Anrichte Sellerie und Minze für die Suppe und lauschte dabei auf das, was sich hinter der Trennwand tat. Dort war Saiko schon mit der Zubereitung der Mandelbuttermasse für die Törtchen beschäftigt, und Poljakow hörte, wie er den in die Küche kommenden Kellnern wohl zum hundertsten Mal erzählte, welch alte und im ganzen Maghreb berühmte Speise diese Mandeltörtchen seien und dass sie in Marokko seit altersher »Neunundzwanzig Prinzen« hießen, wofür es einen sehr seltsamen, aber historisch durchaus gesicherten Grund gebe. Die Kellner hörten Saiko schweigend zu. Dies beredte Schweigen gefiel Poljakow gar nicht. Er wusste, dass auf Marias Schreibtisch schon drei Kündigungsschreiben mit der Bitte um Rückgabe der Arbeitsbücher lagen.
    Poljakow fügte gerade die letzten Gewürze an die fast fertige Harira-Suppe, als er hörte, wie jemand hinter der Trennwand Saiko in scharfem Ton anwies, das Personal nicht mitten im dicksten Trubel mit solchen dummen Geschichten abzulenken. Es war Maria Potechina. Sie warf danach auch noch einen Blick in Poljakows Reich. Die Nachricht von Mochows Tod, die das »Al-Maghrib« wie ein Blitzschlag getroffen hatte, war nicht spurlos an ihr vorübergegangen -ihre Lider waren vom Weinen geschwollen, und unter den Augen lagen dunkle Schatten. Poljakow sah ihr an, dass sie, wie alle anderen auch, von Misstrauen und Furcht gequält wurde. Er wartete nur darauf, sie zu beruhigen und zu trösten, aber Maria kam nicht zu ihm, ihrem alten Freund, um sich bedauern zu lassen. Sie hatten sich in den letzten Tagen nur flüchtig gesehen und gar nicht miteinander gesprochen.
    »Guten Tag, Iwan«, sagte sie. Und an der Art, wie sie seinen Namen aussprach, merkte Poljakow, dass seine alte Freundin ihre Einsamkeit nicht länger ertrug und sich mit ihm aussprechen wollte. »Bist du gerade sehr beschäftigt?«
    »Zehn Bestellungen für Harira.

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