Das zarte Gift des Morgens
Wallung brachte. Mit seinen zweiundfünfzig Jahren hatte er sich schon gar nicht mehr vorstellen können, dass am helllichten Tag, mitten auf der Straße und vor allen Leuten ein junges, märchenhaft schönes Geschöpf einen Mann mit einem solchen Blick anschauen konnte. Was lag nicht alles in diesem Blick! Leidenschaft, Kränkung, Hass, Anbetung, Ergebenheit, Begierde. Iwan traf dieser Blick mitten ins Herz.
Er stieg aus seinem Auto, ging auf das Mädchen zu und sagte: »Weinen Sie nicht bei einem solchen Sturm. Bitte, beruhigen Sie sich. Soll ich Sie nach Hause bringen?«
Sascha Maslowa setzte sich gehorsam zu ihm ins Auto. Er begriff sehr gut, warum sie das tat. Ihr war in diesem Moment vollkommen gleichgültig, was mit ihr geschah. Aber ihm war es nicht gleichgültig. Iwan wusste, dass er im Restaurant erwartet wurde, dass dort schon alles bereitstand und er auf seinem Platz hätte sein sollen.
Er wendete seinen Mercedes auf der eisglatten Uferstraße. Nicht nur der verblüffte Portier sah es. Alle sahen es.
Unterwegs unterhielten sie sich. Er stellte ihr Fragen, sie gab ihm gleichgültige Antworten: Neunzehn Jahre sei sie, ihre Mutter und ihre Schwester lebten in Twer, sie studiere in Moskau, manchmal jobbe sie nebenher, von dem Stipendium allein könne man nicht leben. Sie habe zusammen mit einer Freundin ein Zimmer in einer Kommunalwohnung gemietet. Das Haus, in dem sich diese Kommunalwohnung befand, war alt und schmutzig – ein ehemaliges Wohnheim für Bauarbeiter. Aus diesem Haus holte er Sascha dann später heraus -nein, nicht zu sich. Er mietete ihr eine schöne Zweizimmerwohnung in Medwedkowo. Mit Absicht möglichst weit weg von ihrem früheren Leben und vor allem von ihm – Maxim Studnjow.
Aber zu dieser engen Beziehung kam es erst nach einiger Zeit. So lächerlich es klingt, aber er lief fast zwei Wochen lang ganz kopflos herum und konnte sich nicht entschließen, sie wiederzusehen. Ein Telefon hatte Sascha in der Kommunalwohnung nicht, ihr Handy – so hatte sie ihm erzählt – war abgeschaltet worden, weil sie die Gebühren nicht bezahlt hatte. Sie selbst rief ihn nicht an (er hatte ihr beim Abschied seine Handynummer gegeben). Und so war er, ein respektabler, nicht mehr junger Mann, gezwungen, jeden Abend auf diesen alten, stinkenden Hof zu fahren und wie ein grüner Junge auf sie zu warten . . .
Zuerst begriff er gar nicht, was ihm geschah. Ja, er begehrte sie – so schien es ihm anfangs –, er begehrte dieses unbekannte junge, ungewöhnlich schöne Mädchen. Es war wie eine Krankheit, wie eine fixe Idee, aber er redete sich selbst ein, dass das nichts Ungewöhnliches sei, dass so etwas vorkomme, und schließlich war er ja auch noch ein gesunder, kräftiger Mann mit einem normalen Verlangen nach physischer und emotionaler Entspannung.
Er schlief eine ganze Nacht lang nur deshalb nicht, weil er zu keinem Entschluss kam, wohin er Sascha beim ersten Mal einladen sollte – ins Bolschoi-Theater oder ins Restaurant? Nicht in sein eigenes natürlich – da würde er sich vor Klatsch und Tratsch nicht retten können –, sondern in ein anderes, ein japanisches zum Beispiel. Heutzutage waren die jungen Leute ja ganz wild auf Sushi.
Schließlich fiel ihm nichts Besseres ein, als Sascha in das Musical »Der Glöckner von Notre Dame« mitzunehmen. Sie war begeistert. Er aber saß den ganzen Abend wie auf heißen Kohlen. Er begehrte sie leidenschaftlich.
Nach dem Musical wurde alles etwas einfacher, Gott sei Dank. Er brauchte ihr nicht mehr vor ihrem Haus aufzulauern, er konnte sie anrufen – an jenem Abend schenkte er Sascha ein Mobiltelefon. Er lud sie in ein japanisches Restaurant ein, dann zum Pferderennen ins Hippodrom – es war ja gerade schönster Frühling, der Mai stand in voller Blüte. Danach nahm er sie mit in einen bekannten Nachtklub zu einer Striptease-Show. An diesem Abend fuhr er sie nicht nach Hause, sie verbrachten die Nacht in einem Zimmer über dem Klub. Sascha nahm das alles ganz ruhig hin, als sei sie schon seit langem darauf vorbereitet.
»Ich werde dir eine Wohnung mieten, dort können wir uns treffen. Das ist doch bequemer für dich, nicht wahr?«, sagte er ihr am nächsten Morgen, in dem Gefühl, dass er ihr als anständiger Mann jetzt etwas Aufmuntemdes, Angenehmes sagen müsse.
»Ja, das ist bequemer«, wiederholte Sascha nur.
Am Morgen hatten sie sich getrennt, und am Abend stellte Iwan verwirrt und entsetzt fest, dass etwas Unglaubliches vorgefallen war. Er
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