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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanova
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warnen, aber er hat kein Telefon in seiner Wohnung, und seine Handynummer hatte ich vergessen, ich habe kein Gedächtnis für Zahlen. Ich habe bei Iwan Grigoijewitsch angerufen, aber sein Telefon war abgestellt. Da bekam ich furchtbare Angst. Zwei Nächte konnte ich nicht schlafen. Heute habe ich mich zu Maxim aufgemacht, um herauszubekommen, ob . . .«
    »Ob er noch am Leben ist?«
    »Nein, aber . . . Ich weiß nicht.« Sascha blickte Kolossow kummervoll an.
    »Waren Sie früher schon einmal hier in Stolby in der Wohnung von Studnjow?«
    ›Ja, aber das ist schon lange her. Letzten Winter.« Sascha wurde plötzlich rot.
    »Wann haben Sie Studnjow kennen gelernt und wo?«
    »Vor einem Jahr in einer Diskothek . . . oder eigentlich war das ein Nachtklub. Die ›Eule‹.«
    »Was hat er beruflich gemacht?«
    »Er ist Unternehmer.« Sascha seufzte. »Er war es. Er hat immer gesagt, er hätte ein kleines, aber einträgliches Geschäft.«
    »Und warum haben Sie sich getrennt? Sie haben sich doch getrennt, oder?«
    »Er . . . hat mich nicht mehr geliebt. Er hat mich verlassen.« Das Mädchen sagte das leise und äußerlich ruhig.
    »Und Sie?«
    »Was, ich?«
    »Haben Sie ihn auch nicht mehr geliebt?«
    »Wahrscheinlich nicht.«
    »Dieser Iwan Grigoijewitsch . . . Wie heißt er mit Nachnamen?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Ist er auch ein enger Freund von Ihnen?«
    »Er hält mich aus.« Sascha antwortete leise, fast teilnahmslos. »Er war immer gut zu mir. Hat mir alles gekauft, was ich haben wollte, hat eine Wohnung für mich gemietet. . . nichts schlägt er mir ab. Nur . . .«
    »Was – nur? Warum hatten Sie solche Angst um diesen Studnjow? Ist Ihr Iwan Grigoijewitsch denn so furchterregend?«
    »Er . . . er . . . gehört zur Mafia.«
    »Wa-was?« Nikita traute seinen Ohren nicht.
    »Er gehört zur Mafia«, wiederholte Sascha überzeugt, »das hat er mir selbst gesagt. Sie sollten nur mal sehen, was für ein Auto er fährt!«

5
    Es gab drei Dinge auf der Welt, die Iwan Grigorjewitsch liebte: seinen Beruf, seinen Wagen und Sascha Maslowa.
    Von seinen zweiundfünfzig Jahren hatte er dem Beruf rund dreißig gewidmet. Der Wagen, den er sich gekauft hatte, war der, von dem er immer geträumt hatte – ein Mercedes-Sportcoupe. Für Sascha Maslowa bezahlte er den gesamten Lebensunterhalt.
    Aber seit einiger Zeit hatten die Prioritäten sich geändert. Beruf und Sportcoupe rückten immer mehr in den Hintergrund. Alle Gedanken und Wünsche Iwans drehten sich nur noch um Sascha. Hätte jemand vor einem Jahr, wenn auch nur im Scherz, ihm gesagt, dass er – ein solider, gut situierter Mann, der sein Leben im Griff hatte – sich derart benehmen und so etwas fühlen würde, er hätte als Erster über diesen Witz gelacht und es nicht geglaubt. Auch jetzt konnte er manchmal nicht glauben, dass dies alles ihm widerfuhr.
    Er hatte Sascha Maslowa ganz zufällig vor dem Restaurant kennen gelernt. Es war Anfang Frühling gewesen. Auto auf Auto fuhr vor, prominente Gäste stiegen aus. Auch Aurora war darunter. Sie besuchte dieses Restaurant häufig, und man kannte sie dort schon gut. Aber diesmal wurde sie von einem jungen Mann begleitet, den Iwan noch nie gesehen hatte. Später erfuhr er, dass es sich um einen gewissen Maxim Studnjow handelte. Er war groß und gut aussehend. Der Vertrautheit nach zu urteilen, die Aurora im Umgang mit ihm an den Tag legte, war sie schon mit ihm im Bett gewesen. Sie stiegen aus einem dunkelgrünen Sportwagen und gingen ganz offen Arm in Arm, ohne sich vor jemandem zu verstecken, ins Restaurant.
    Bei dieser Gelegenheit erblickte Iwan zum ersten Mal Sascha Maslowa. Sie stand in einiger Entfernung hinter einem riesigen schwarzen, schmutzbespritzten Jeep, der wie ein Grabmal aussah. Offenbar hatte sie sich dahinter versteckt, um Studnjow zu beobachten. Sie trug keine Kopfbedeckung, ihre roten Haare waren vom Wind zerzaust, ihre kurze Schaffelljacke stand offen, obwohl auf dem Uferkai vor dem Restaurant ein heftiger Schneesturm tobte und von der Moskwa immer wieder starke Windböen kamen, die den Schnee in großen Klumpen von den Bäumen rissen.
    Das Mädchen beobachtete, wie der hoch gewachsene Studnjow sich zu der kleinen, quirligen Aurora hinunterbeugte, wie er ihr lachend etwas ins Ohr flüsterte und mit lässiger Liebenswürdigkeit dem Portier zunickte, der ihnen die Tür offen hielt. Es schaute diesen jungen Kerl, den Iwan damals noch nicht kannte, mit einem Blick an, der Iwans Blut unwillkürlich in

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