Das zarte Gift des Morgens
schon verdächtigen Anruf spekulieren. Für Kolossow waren die Giftmorde, seinem forschen Tonfall nach zu urteilen, offenbar so gut wie gelöst. Doch Katja kam alles noch wie in einen undurchsichtigen, giftigen Nebel gehüllt vor, einen Nebel, der sich wie über einem fauligen Sumpf immer mehr verdichtete, ohne irgendein Leuchtfeuer, das ihr den Weg wies. Katja konnte ihn fast körperlich spüren. Das verwirrte und bedrückte sie, denn gewöhnlich vertraute sie ihren Gefühlen. Nein, mit Anfissa und ihren immer häufigeren, hartnäckigen Anrufen hatte das nichts zu tun. Oder vielleicht doch? Und sie wollte sich das nur nicht eingestehen? !
Aber das Allertraurigste – sie hatte keinen Menschen, dem sie ihre Zweifel hätte mitteilen und den sie um Rat hätte fragen können! Ihr Göttergatte Wadim war weit weg und meldete sich mal wieder nicht. Auch ihr gemeinsamer Busenfreund Meschtscherski schien vergessen zu haben, dass Katja existierte. Die beiden erholten sich am Meer, sonnten sich am Strand, gossen sich einen hinter die Binde und baggerten Mädchen in der Bar an. Katja dagegen blies einsam Trübsal und quälte sich mit Zweifeln und Sorgen.
Punkt eins traf sie sich mit Anfissa am Telegrafenamt in der Twerskaja. Es war schwül, die Sonne brannte unbarmherzig. Hoffentlich schleppt Anfissa mich nicht wieder in irgendeine Pizzeria, dachte Katja – bei dieser Hitze!
»Hier, das wollte ich dir zeigen. Du bist die Erste, bei der ich damit angebe.« Anfissa (sie trug ein rosa T-Shirt, weit wie eine römische Tunika, eine moosbeerenrote Sommerhose und einen Strohhut mit kokett heruntergebogenem Rand) drückte der überraschten Katja eine dünne, aber dafür hochelegante Zeitschrift in die Hand, mit farbenprächtigen, exquisiten Fotografien, die die neueste Männermode, Nachrichten aus der Welt der Promis und Werbung für Rasiercreme illustrierten. Auf der von Anfissa aufgeschlagenen Seite sah man einen jungen Mann vor einer über und über mit Graffitti bedeckten Backsteinmauer. Sein nackter Oberkörper war sonnengebräunt und durchtrainiert. Er trug verwaschene Jeans, die offensichtlich aus einer teuren Herrenboutique stammten. Auf dem schönen, markanten Gesicht spielte ein spöttisches Lächeln. Zu den Füßen des Mannes lag ein Hund, eine lustige, zottelige Promenadenmischung, aus deren Augen Ergebenheit und Bewunderung sprachen.
Katja schaute das Foto an, dann Anfissa . . ..
»Ja«, sagte die, »etwas ist dieser Welt doch noch von ihm erhalten geblieben . . .«
Erst da erkannte Katja den Mann. Es war Maxim Studnjow, der von dem eine ganze Doppelseite füllenden Hochglanzfoto lächelte. Schweigend gab Katja die Zeitschrift zurück. Was hätte sie auch sagen sollen? »Eine erstklassige Aufnahme«? »Schlag ihn dir endlich aus dem Kopf!« oder »Du hast ihn trotz allem noch fotografiert«?
»Warte.« Anfissa hielt sie fest. »Du hast es eilig, ja? Aber gleich kommt Mochow. Er hat mich gestern Abend angerufen, ganz aufgeregt. Er sagte, das Restaurant sei wieder geöffnet . . . Ich hatte ihm schon früher erzählt, dass du bei der Miliz arbeitest und dich mit diesem Fall beschäftigst. Und dass du meine Freundin bist, er dir also vertrauen kann. Und nun hat er mich gebeten, ein Treffen mit dir zu organisieren, deshalb habe ich dich auch angerufen.«
Sie warteten noch eine halbe Stunde vor dem Telegrafenamt auf Mochow. Katjas Mittagspause ging zu Ende. Anfissa versuchte mehrere Male, Mochow anzurufen, aber -»Der Teilnehmer ist zur Zeit nicht erreichbar«.
»Er ist Reporter«, sagte Katja. »Sicher braucht er irgendwelche Informationen zu diesem Fall für einen Artikel. Da hat er seine Angel bei dir ausgeworfen.«
Anfissa schüttelte den Kopf.
»Nein, das ist unwahrscheinlich. Ich hatte im Gegenteil den Eindruck, als wolle er dir etwas sagen. Etwas Wichtiges.«
»Ja, aber wo steckt er dann?«
Anfissa wählte noch einmal Mochows Nummer, aber ohne Ergebnis.
»So was hat er noch nie gemacht«, brummte sie, »sich erst selbst aufgedrängt und dann . . . Seltsam. Überhaupt ist er so merkwürdig geworden. Na gut, ich werde ihm schon sagen, was ich von so einem Benehmen halte. Morgen Mittag kreuzen sich unsere Wege sowieso, dann bringe ich ihm gute Manieren bei.«
»Und wo kreuzen sich eure Wege?«, fragte Katja.
»Im ›Rashomon‹, das ist ein japanisches Restaurant, das morgen eröffnet wird, da gibt es einen Empfang für die Presse. Du weißt ja, Pjotr nimmt mich oft mit zu solchen Einladungen. Er muss einen
Weitere Kostenlose Bücher