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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanova
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Diplomatenhochzeit: Der vierte Sekretär der Botschaft von Algier heiratete eine Ballerina vom Bolschoi-Theater. Seit dem frühen Morgen summte das Restaurant wie ein aufgeregter Bienenschwarm. Als dann am Kai der Moskwa wie dunkle Schwäne die nachtschwarzen Mercedeslimousinen mit den Nummern des diplomatischen Korps auftauchten, schmetterte ihnen eine vor dem Eingang des »Al-Maghrib« stehende Kapelle einen Willkommensgruß entgegen – ein orientalisches Folklore-Ensemble, das man noch rasch aus dem außerhalb der Stadt gelegenen Kasino »Ali-Bei« herbeibeordert hatte.
    Die Tische der Hochzeitsgesellschaft waren über beide Säle verteilt. Unter den Gästen waren viele dunkelhaarige, schlanke, südländisch aussehende Männer im schwarzen Smoking oder in Anzügen von »Gucci« und ein ganzer Schwarm von Moskauer Ballettschönheiten.
    Heimlich beobachtet wurde dieses fröhliche, lärmende, halb orientalische, halb europäische Fest, das aus der Tasche des freigebigen Bräutigams bezahlt worden war (er war der Spross einer steinreichen algerischen Familie), von zwei Außenstehenden: Pjotr Mochow und Serafim Simonow.
    Die beiden saßen in dem kleinen, gemütlichen Büro Maria Potechinas und verfolgten mithilfe des Überwachungssystems – einer gewöhnlichen Videokamera und einem Monitor –, was sich bei der Hochzeit tat. Das Büro war völlig verqualmt, und auf dem Zeitschriftentisch neben dem Sofa stand eine ganze Batterie von Flaschen aus der Bar, die an diesem Abend auf die ausdrückliche Bitte der orientalischen Diplomaten hin geschlossen worden war.
    Mochow war von Maria ins »Al-Maghrib« gebeten worden. Ein kleiner Zeitungsartikel über die algerische Hochzeit, hatte sie gesagt, würde das getrübte Image des Restaurants wieder aufpolieren. Simonow war von niemandem eingeladen worden. Er ging im »Al-Maghrib« ein und aus, wann immer sein Herz und sein Magen es begehrten: In der Bar hatte er unbegrenzt Kredit. Maria zankte ihn zwar aus, weil er so viel trank, aber dieses Privileg gewährte sie ihm trotzdem.
    »›Die Mädels liebten die Ausländer‹«, sagte Simonow mit einem Seitenblick auf den Bildschirm, wo die Braut in einem weißen Kleid von Givenchy zu sehen war. »Erinnerst du dich, das hat Wyssotzki geschrieben. ›Die Mädels liebten immer nur die Ausländer . . .‹ Und wir Russen haben wie üblich das Nachsehen . . . Nun sieh doch bloß«, er stieß Mochow an, »wie dieser Beduine sie anglotzt. Statt der Hochzeitstorte frisst der gleich die Braut auf. Seine Augen glühen wie Kohlen.«
    Mochow goss sich einen Kognak ein. Gewöhnlich trank er nur in Maßen, aber seit einiger Zeit fiel allen im »Al-Maghrib« auf, dass kaum ein Tag verging, an dem er sich nicht an der Bartheke ein paar Gläschen Schnaps genehmigte.
    »Tu dir keinen Zwang an, Petja«, brummte Simonow spöttisch. »Bald machst du mir in puncto Saufen Konkurrenz. Aber so lebt es sich doch besser und einfacher, nicht?«
    Mochow gab keine Antwort. Die Kamera zeigte jetzt ein Panoramabild des Saals – gedeckte Tische, fröhliche Gäste, den rotwangigen, freundlich lächelnden Koch Saiko, der gerade unter den Augen der Gäste in einer riesigen Tonschüssel mit kegelförmigem Deckel das Hochzeits-Tajin zubereitete. Obwohl die Hochzeit eines Moskauer Diplomaten gefeiert wurde, hielt man dennoch an den traditionellen Bräuchen des Orients fest: Die Schwester des Bräutigams brachte der Braut zu Beginn des Festessens eine rituelle Speise – süße Mehlteigbällchen in ausgelassener Butter. Und die gertenschlanke Ballerina verzehrte die fetten Bällchen, ohne mit der Wimper zu zucken.
    »Saiko hat erzählt, dass man in Marokko die Bräute vor der Hochzeit wie Truthennen mästet«, sagte Simonow, »damit sie möglichst viel Fett ansetzen. Ja, da wird unsere Hupfdohle noch manches runterschlucken müssen . . . Ob sie mit ihrem Mann nach Algerien geht? Nein, wohl kaum, solche Schafe gibt es heute nicht mehr, sie wird ihn bequatschen, nach Paris zu ziehen oder nach Amerika . . . Petja, du warst doch schon mal in Amerika? Wie ist es dort? Lebt man gut?«
    »Ja«, antwortete Mochow einsilbig, um den anderen abzuschütteln.
    »Wieso bist du nicht dort geblieben?«
    Mochow schaute Simonow an.
    »Und wieso heiratest du nicht?«, fragte er zurück. »Dann würde das alles hier dir gehören.«
    »Das alles hier?« Simonow blickte sich in Marias Büro um, musterte den Monitor, den mit Zigarettenkippen gefüllten Aschenbecher, die Flaschen. »Das alles

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