Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
aus und es war entsetzlich, mitansehen zu müssen, wie der unreife Mais verdorrte. Die Knollen, die ein wichtiges Nahrungsmittel darstellen, verfaulten und das Wild verschwand. Die Lagerhäuser leerten sich und die Leute litten Hunger. Sie teilten untereinander auf, was sie an Essbarem finden konnten, doch viele starben. Dann kam ein weiteres schlimmes Jahr. Alle wurden dünn und schwach. Kinder mit aufgetriebenen Bäuchen hingen apathisch in Tuchschlingen auf dem Rücken ihrer Mütter. Tiere verendeten auf den Straßen, weil sie nichts zu fressen fanden.
Dann hörten und sahen wir, wie sich Prozessionen von Priestern auf den Weg in die Berge machten. Unsere Dienerinnen bestätigten, dass sie Kinder auswählten, um sie zu opfern und die Götter anzuflehen, die Hungersnot zu beenden.
Vor der Hungersnot hatten wir vorsichtig versucht, die Priester und die Männer in den öffentlichen Ämtern von diesem fürchterlichen Brauch abzubringen. Statt die Mädchen den Göttern zu opfern, so hatten wir angeführt, wäre es von größerem Nutzen, sie uns zu geben, um beim Himmel Fürsprache für die Menschen zu halten. Obwohl die Priester uns im Allgemeinen wohlgesonnen sind, wurden sie ärgerlich, als wir diesen Vorschlag machten. Sie warnten uns, dass unsere Dreistigkeit die Götter weiter erzürnen würde. Es war furchtbar, abzuwarten und nichts tun zu können.
Dann kam die Frau des Anführers, um uns die Nachricht zu bringen – und uns zu überzeugen, dass es eine Ehre sei –, dass die Priester die Töchter des Anführers als Opfer auserwählt hatten. Die arme Mutter! Die Mädchen sollten uns auf dem Weg in die Berge einen letzten Besuch abstatten dürfen und sie bat uns, ihnen Beistand zu gewähren, sie stärken für das, was vor ihnen lag. So wollte es der Brauch ihres Landes und ihres Gottes. Als sie sah, wie wir ihre Nachricht aufnahmen, brach sie, die stolze Frau, beinahe zusammen. Sie und der Anführer hatten keine weiteren Kinder.
Traurig warteten wir auf den Abschiedsbesuch dieser beiden lieben Kinder. Er kam nur allzu bald. Es war ein langer trockener Tag, wir arbeiteten im Garten und versuchten, die Rüsselkäfer auszumerzen, die das Wenige wegfraßen, das die Trockenheit uns gelassen hatte. Dabei hielten wir immer ein Auge auf die Straße. Wir warteten. Es herrschte eine unnatürliche Stille an diesem Tag, selbst das Gezwitscher der Schwalben war verstummt. Uns allen war unbehaglich zumute. Dann hörten wir in der Ferne die fürchterlichen Trommeln und wussten, dass die Priester und die Töchter des Anführers ihren Gang in die Berge angetreten hatten. Mit wehenden Bannern kam die Prozession in Sicht, die beiden Mädchen in der Mitte. In der unnatürlichen Stille klangen die Trommeln und Gesänge schrill und grausam, als wollten sie den Satan persönlich willkommen heißen.
Vor unserem Haus verstummte der Gesang und die beiden Mädchen entfernten sich von der Prozession und kamen auf uns zu. Lächelnd umarmten sie uns eine nach der anderen. Ihre Augen leuchteten und sie schienen wie in Trance zu sein. Wir wussten, dass sie einen besonderen Trank bekommen hatten, der die Opfer auf das Kommende vorbereitete. Die Trauer überwältigte uns beinahe angesichts dieses furchtbaren Abschieds, doch wir versuchten den Wunsch der Mutter zu erfüllen. Die Inkas lieben Blumen und trotz der Dürre hatten wir ein paar finden können, die wir den Mädchen geben wollten, wenn der Augenblick gekommen war.
Oberin María Manuela wandte sich um, um sie aus einem Tontopf mit Wasser zu nehmen. Sie hob sie gerade heraus, als der Topf ganz von allein zu beben begann. Als sie erschreckt aufschrie und zurückwich, fiel er zu Boden und zersprang, und plötzlich fing der Boden an zu beben und ein fernes Grollen durchbrach die Stille, das bald zu einem schrecklichen Getöse anschwoll. Die Erde wogte so gewaltig auf und ab, dass wir durch den Garten geschleudert wurden und die Prozession sich in alle Winde zerstreute. Priester und Zuschauer schrien, als sich Felsbrocken aus den Bergen über uns lösten und ins Tal polterten.
Wir packten die benommenen Mädchen und rannten auf unser Haus zu. In dem Augenblick, als wir uns ins Innere flüchteten, hob sich der Boden aufs Neue und bebte heftig, dann folgte das Prasseln von kleinen Steinen, dann ohrenbetäubendes Getöse, als erst Felsgeröll aus den Höhen herunterkrachte und dann Lawinen aus Erde und Gestein. Die völlig verängstigten Dienerinnen schoben sich nach uns in unsere kleine
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