Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
ganze Weile, bis unsere Gespräche mit den Frauen uns verstehen ließen, warum wir hier auf so ungewöhnliche Weise aufgenommen wurden und wie wir Gott an diesem Ort am besten dienen konnten.
Wir erfuhren, dass die einheimischen Nonnen, die Jungfrauen der Sonne, von Kindheit an der Sonne geweiht waren. Jene von edler Geburt führten ein Leben in strenger Abgeschiedenheit in ihren prachtvollen Häusern zwischen dem Königspalast und einem großen Tempel, so wie Klöster oft in der Nähe einer Kirche zu finden sind. Jedes Jahr gab es eine prunkvolle Zeremonie zu Ehren der Sonne, bei denen religiöse Prozessionen vom Sapa Inka selbst geleitet wurden. Nach den Umzügen gab es Festessen, Tänze und Opferrituale. Die Jungfrauen der Sonne widmeten ihr Leben der Herstellung von exquisiten Stoffen für die königlichen Roben und des Honigweins, der bei zeremoniellen Anlässen getrunken wird. Sie lebten ausschließlich mit anderen Frauen zusammen, wurden von jungfräulichen Dienerinnen versorgt und durften nie einen Mann sehen oder das Haus verlassen. Ihr ganzes Leben lang gehörten sie dem Sapa Inka , ihrem Herrscher und der Sonne in Menschengestalt. Der Sapa Inka war der einzige Mann, der diese Jungfrauen von Angesicht zu Angesicht sehen durfte, doch es war nicht üblich, dass er dieses Privileg ausübte.
Für alle anderen Männern galt, dass es eine Beleidigung der Sonne darstellte, wenn sie eine Jungfrau ansahen. Dieses Vergehen wurde grausam bestraft: Die Jungfrau wurde lebendig begraben, der Mann, der sich dieser Untat schuldig gemacht hatte, wurde gehängt, seine Familie und Nachbarn getötet, all sein Vieh geschlachtet, sein Dorf dem Erdboden gleichgemacht und seine Felder zerstört.
Das Reich ist in verschiedene Regionen aufgeteilt und es gibt manche Gebiete, in denen diese Regeln nicht so streng gehandhabt wurden. Dort gibt es weniger hochstehende Häuser mit Jungfrauen, die ebenfalls von Männern getrennt leben und für die königliche Familie der Inkas arbeiten, unter denen sich der Sapa Inka jedoch von Zeit zu Zeit Konkubinen aussucht oder die er seinen Verbündeten als Ehefrauen oder Konkubinen gibt. Normalerweise leisten diese geringeren Jungfrauen eine Zeitlang ihre Dienste und kehren dann in ihre Familien zurück. Sie werden mit großer Ehrerbietung behandelt und oft heiraten sie auch.
Wir schienen irgendwo zwischen diese beiden Kategorien von Jungfrauen zu passen. Bei unserer ersten Begegnung mit den Kriegern am Strand schien der Matrose ihnen mit seiner rüden Geste nicht nur mitzuteilen, dass wir Jungfrauen des Sonnengottes seien, sondern auch, dass er es war, der uns auf großen Flügeln über das Wasser in das Land der vier Teile entsandt hatte, mit übermenschlichen Bewachern, die die Gestalt gewöhnlicher Männer hatten. Der Anführer hatte die Frauen angewiesen, uns so zu empfangen, wie es den Dienerinnen der Sonne zustand, und seinen Kriegern befohlen, die Matrosen am Leben zu lassen. Vielmehr hatte er ihnen Verpflegung geschickt und Sklaven, die das Schiff reparierten, sodass die Matrosen davonsegeln konnten. Wir beteten, dass sie sicher nach Hause zurückkehrten.
Uns begegnete man mit Neugier und Ehrerbietung und wir hofften, dass man uns nicht als potenzielle Konkubinen betrachtete. Die gut aussehende Frau, die uns nach unserer Ankunft mit ihren Töchtern besucht hatte, war nicht die Königin, sondern die Ehefrau des Anführers. In beider Adern floss das Blut der Inka-Könige und diese Frauen, so wollte es der Brauch, hielten eine enge Verbindung zu den Jungfrauen der Sonne, so wie die spanische Königin die Beschützerin von Las Golondrinas ist.
Trotz aller Gastfreundschaft, die man uns entgegenbrachte, mussten wir nach und nach erkennen, dass dies ein grausames Land ist. Bei den großen Zeremonien werden viele Menschen geopfert, vor allem Kriegsgefangene, und in Zeiten von Hungersnot oder anderen Beschwernissen suchten die einheimischen Priester in den Familien des Adels die schönsten Kinder aus, um sie in die Berge zu bringen, zu salben und zu segnen und sie dann zu opfern, damit sie als Boten der Menschen in der Ebene vor die Götter traten.
Sor María Manuela kam zu der Überzeugung, dass Gott uns mit der Absicht hierhergeschickt hatte, diesen Bräuchen ein Ende zu setzen. Wir wussten, dass wir unsere Tugendhaftigkeit unter Beweis stellen mussten, bevor wir darauf hoffen konnten, Einfluss auf die Einheimischen ausüben zu können. Sie befahl den Frauen, die uns bedienten, auf die
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