Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
Kapelle, in die wir die Mädchen gezerrt hatten und wo wir uns auf den Knien um die Oberin María Manuela scharten und beteten. Die Oberin hielt ihr Kruzifix in die Höhe, damit wir alle im Moment unseres Todes die Augen darauf gerichtet halten konnten. Draußen donnerten Erdmassen zu Boden und wir wussten, dass Menschen und Tiere eingeschlossen, erdrückt und begraben wurden. Unser Haus zitterte und bebte und wir rechneten jeden Augenblick damit, dass uns dasselbe Schicksal ereilen würde. Ein Teil des Daches brach ein, Trümmer wurden gegen die Wände geschleudert. Dann beruhigte sich der Boden unter uns, doch gerade, als wir uns langsam umsahen und kaum glauben konnten, dass wir noch lebten, gab es einen weiteren Stoß, der neue Erdrutsche auslöste.
So ging es die ganze lange und schreckliche Nacht hindurch, sodass wir nicht wagten, unseren Unterschlupf zu verlassen und zu sehen, wo wir helfen könnten. Wir blieben dicht gedrängt in der Kapelle, die Mädchen zwischen uns, und die Dienerinnen beteten zu ihren Göttern, wir zu unserem.
Als wir uns am nächsten Morgen hinauswagten, bot sich uns ein entsetzlicher Anblick. Häuser und leere Getreidespeicher und Ställe und Felder – ganze Dörfer waren verschwunden, unter Tonnen von Erde und Geröll begraben. Wir sahen Leichen oder Teile von Leichen und Tieren und Stofffetzen, die Reste der Banner, die die Priester am Vortag getragen hatten. So gut es ging, suchten wir nach Überlebenden, doch wir waren nicht stark genug, um viel ausrichten zu können. Einen Tag später kam eine Gruppe von Soldaten, um die Rettungsarbeiten fortzusetzen, doch sie kamen nur langsam voran, und die wenigen, die lebend unter den Trümmern hervorgezogen werden konnten, starben meist an ihren schweren Verletzungen. Wir erfuhren, dass selbst der große Tempel und das Haus der Jungfrauen der Sonne zerstört worden war und viele dabei gestorben waren.
Unsere Dienerinnen und Sklavinnen, die sich mit uns in die Kapelle gedrängt hatten, schilderten, wie wir die Nacht verbracht hatten, und schnell sprach es sich herum, dass es die Kraft unserer Gebete und der Schutz unseres Gottes gewesen sei, der uns gerettet habe. Eine Woche nach dem Erdbeben begann es zu regnen und die Felder, die nicht verschüttet waren, erholten sich ein wenig. Wir brachten die Verletzten in unser Krankenhaus und achteten darauf, dass niemand die Töchter des Anführers zu Gesicht bekam. Zu unserer großen Erleichterung kehrten die Priester nicht zurück, um sie zu holen. Dennoch waren sie für die »Ehre des Opfers« auserwählt, wie es die Leute hier nennen, und wir überlegten sehr besorgt, was aus ihnen werden würde.
Einige Wochen später kam der Anführer selbst zu uns. Er war eine Art Vizekönig in dieser Region und hatte das Ausmaß der Schäden beurteilt. Wir gingen, um ihn zu empfangen, und waren fest entschlossen, dagegen zu sprechen, dass er die Mädchen zu den Priestern zurückbrachte, um sie opfern zu lassen.
Er begrüßte die Oberin, die er mamakuna nannte, und beglückwünschte uns, weil die Gunst unserer Götter unseren Tod verhindert habe. Voller Würde sprach er davon, dass die Priester seine Töchter für das Opfer auserwählt hatten, dass die Götter jedoch anders entschieden hätten. Wir atmeten ein wenig auf. Ich warf ihm einen raschen Blick zu und erkannte, dass Krieger und Prinzen zwar die schrecklichsten und blutigsten Qualen erlitten, ohne Schmerz oder Schwäche zu zeigen, dass ihm seine Töchter aber lieb und teuer waren. Nur die grausame Disziplin, die die Gepflogenheiten seines Landes und seine Stellung als Mitglied der königlichen Familie ihm abverlangten, verhinderte, dass er zeigte, wie erleichtert er war.
Die Verletzlichkeit, auf die ich hinter der Fassade des stolzen Kriegers einen flüchtigen Blick erhascht hatte, berührte mich. Sie bewegte mich so sehr, dass ich mich zwingen musste, den Kopf gesenkt zu halten und ihm nicht in die Augen zu sehen. Er war verheiratet und ein Heide und Angehöriger eines Volkes, das die abstoßendsten Grausamkeiten verübte, doch seine Gegenwart brachte mich aus der Fassung. Ich starrte angestrengt auf den Boden, als würde sich zu meinen Füßen ein Wunder ereignen. Trotzdem schweiften meine Augen irgendwie ganz von allein vom Boden auf seine Beine, die kräftig und bloß unter seiner Tunika hervorsahen. Ich zwang mich, um seiner Frau willen froh zu sein, dass seine Kinder verschont geblieben waren.
Und auch er sprach gerade von seiner Frau: Sie
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