Das Zeichen des Vampirs - The Society of S
fuhren wir zu mehreren anderen Jugendlichen zum See, um uns ein Feuerwerk anzusehen. Die anderen schlugen ständig nach Fliegen und Moskitos, aber mir hatten Insekten noch nie etwas anhaben können. Um besser sehen zu können, stellte ich mich ein bisschen abseits von den anderen, und als ich meinen Blick vom Himmel abwandte, stand plötzlich Michael neben mir. Ich sah, wie sich ein rubinroter Sternenregen in seinen Augen spiegelte, als er mich küsste.
Du hast recht - ich habe Michael noch gar nicht beschrieben, oder? Ich glaube, er war in diesem Sommer sechzehn, ein normal großer Junge mit dunkelbraunen Haaren, braunen Augen und sonnengebräunter Haut. Er verbrachte so viel Zeit er konnte draußen, fuhr Fahrrad und ging schwimmen. Er war muskulös, schlank und hatte die Fähigkeit, mit völlig ausdrucksloser Miene die lustigsten Witze zu erzählen, was ziemlich oft vorkam. Hin und wieder stibitzte er von seinem Vater Zigaretten und deswegen roch er manchmal nach Tabak. Reicht das? Ich finde, das ist erst einmal genug über ihn.
Der Juli ging in den August über und die McG-Kinder bereiteten sich auf die Schule vor - sie kauften Schulhefte und Stifte, gingen zum Zahnarzt, ließen sich die Haare schneiden
und diskutierten über die Lehrer, die sie bekommen würden. Eines Tages wehte von Kanada ein kalter Wind heran und überbrachte Saratoga Springs die unmissverständliche Botschaft, dass der Sommer nicht ewig dauern würde.
Vielleicht machte mich dieses Wissen nervös. Vielleicht vermisste ich auch Dennis, der den ganzen Monat zu Forschungszwecken in Japan war. Seit ich ein Baby war, hatte er eine ganz spezielle Zuneigung zu mir. Ich dachte daran, wie er mit mir Pferd gespielt und mich auf seinen breiten Schultern herumgetragen hatte und wie oft er mich zum Lachen brachte. Er nannte sich mein »netter sommersprossiger Freund«. In ein paar Wochen würde er wieder zurück sein, das war der einzig tröstliche Gedanke, der mir dazu einfiel.
Ich saß in der Bibliothek und zwang mich dazu, eine Gedichtsammlung von Edgar Allan Poe zu lesen, kam aber nur mühsam voran. Ich quälte mich durch Der Bericht des Arthur Gordon Pym , der mir so langatmig vorkam, dass es mir geradezu körperlich wehtat. Aber die Gedichte waren noch schlimmer. In einer Stunde würde mein Vater nach oben kommen und mich fragen, welche Einblicke in Metrum und Reim ich gewonnen hatte, aber das Einzige, woran ich denken konnte, war, dass Michael und Kathleen zum Einkaufen in die Stadt gefahren waren und ich sie den ganzen Tag nicht sehen würde.
Mrs McG machte mir zum Mittagessen ein Omelette, das so wässrig und fade war, dass ich nur ein paar Bissen davon hinunterkriegte. Ich fragte mich, warum ihr Essen bei ihr zu Hause so viel besser schmeckte.
Als ich um eins zu meinem Vater in die Bibliothek kam, sagte ich: »Ich halte nicht viel von Poes Gedichten.«
Er saß am Schreibtisch und zog eine Augenbraue hoch. »Und wie viele von ihnen hast du gelesen, Ariella?«
»Genug, um zu wissen, dass ich sie nicht mag.« Ich sprach hastig, um die Wahrheit zu verbergen: Ich hatte lediglich die erste und letzte Strophe gelesen und den Rest nur überflo gen. Ich versuchte, es ihm zu erklären. »Es sind nur … Worte auf Papier.«
»Welches Gedicht hast du gelesen?« Er wusste, dass ich nur ein einziges gelesen hatte. Er wusste immer alles.
Ich schlug das Buch auf und reichte es ihm. »Annabel Lee.« Er sprach den Namen wie eine Liebkosung aus. »Oh Ari. Ich glaube nicht, dass du es ganz gelesen hast.«
Und er las mir das Gedicht laut vor, wobei er kaum in das Buch blickte, nie eine Pause zwischen den Zeilen oder Strophen machte und die Worte wie Musik klingen ließ, wie das traurigste Lied der Welt. Als er die letzten Zeilen sprach (»So ruh ich denn bis der Morgen graut / Allnächtlich bei meinem Liebchen traut / In des schäumenden Grabes Näh’ / An der See, an der brausenden See.«), weinte ich. Und als er vom Buch aufblickte, sah ich auch in seinen Augen Tränen.
Er fing sich schnell wieder. »Es tut mir leid«, sagte er. »Poe war wohl keine so gute Wahl.«
Ich aber konnte nicht aufhören zu weinen. Ich schämte mich, rannte aus der Bibliothek und stürmte die Treppe zu meinem Zimmer hinauf. In meinem Kopf klangen immer noch Zeilen des Gedichts nach: »Wenn die Sterne aufgeh’n, so kann ich drin sehn / Die Äuglein der Annabel Lee / Und noch jegliche Nacht hat mir Träume gebracht / Von der lieblichen Annabel Lee.«
Ich ließ mich aufs
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