Das Zeichen des Vampirs - The Society of S
viel Zeit erzählt werden könne. Und er bat mich, Geduld zu haben, ihn nicht mit Fragen zu unterbrechen. »Ich möchte, dass du verstehst, wie die Dinge sich ergaben, wie eines zum anderen führte«, sagte er. »Wie Nabokov in seiner Autobiografie schrieb: ›Ich will meinen Dämon objektiv ins Auge fassen.‹«
»Gut«, sagte ich. »Ich möchte verstehen.«
Und so erzählte er mir die Geschichte, die am Anfang dieser Aufzeichnungen steht, die Geschichte einer Nacht in Savannah. Von den drei Schach spielenden Männern. Von der seltsamen Vertrautheit zwischen ihm und meiner Mutter. Von dem Tor, dem Fluss, dem Schultertuch. Und als er fertig war, erzählte er mir die Geschichte noch einmal und schmückte sie diesmal mit Einzelheiten aus. Die beiden Männer am Schachtisch hatten mit ihm an der University of Virginia studiert und waren übers Wochenende zu Besuch in Savannah. Einer von ihnen war Dennis gewesen. Der andere hieß Malcolm.
Mein Vater war in Argentinien geboren worden. Seinen eigenen Vater hatte er nie kennengelernt, wusste aber aus Erzählungen, dass er Deutscher war. Seine Eltern hatten nie geheiratet. Den Nachnamen Montero hatte er von seiner brasilianischen Mutter, die starb, als er noch ein kleines Kind gewesen war.
Ich fragte ihn nach meiner Mutter. »Du hast damals zu ihr gesagt, du hättest sie schon einmal gesehen.«
»Ein seltsamer Zufall, ja«, sagte er. »Wir sind uns tatsächlich einmal begegnet, als wir Kinder waren. Meine Tante lebte
in Georgia. Eines Sommers, als ich dort war, traf ich deine Mutter nachmittags auf Tybee Island, und wir spielten zusammen im Sand. Ich war sechs. Sie war zehn. Ich war ein Kind und sie war ein Kind.«
Ich erkannte die Zeile aus Annabel Lee wieder.
»Nachdem ich meine Kindheit zuvor im Landesinneren von Argentinien verbracht hatte, hinterließ es einen tiefen Eindruck bei mir, jetzt plötzlich am Meer zu sein. Die Klänge und Gerüche des Ozeans erfüllten mich mit einem inneren Frieden, den ich so noch nie zuvor erlebt hatte.« Er wandte den Blick von mir ab, ließ ihn wieder zu dem Schaukasten hinüberwandern und betrachtete die drei kleinen Vögel, die hinter dem Glas gefangen waren.
»Ich verbrachte jeden Tag am Strand, baute Sandburgen und suchte nach Muscheln. Eines Nachmittags kam ein Mädchen in einem weißen Sommerkleid auf mich zu. Sie nahm mein Kinn in die Hand und sagte: ›Ich kenne dich. Du wohnst im Blue Buoy Cottage.‹
Sie hatte blaue Augen und rotbraunes Haar, eine kleine Nase und volle Lippen, die zu einem Lächeln geschwungen waren, das wiederum mich zum Lächeln brachte. Ich sah sie an, während sie mein Kinn hielt, und spürte, wie etwas zwischen uns geschah.«
Er schwieg. Einen Augenblick lang war das Ticken der Standuhr das einzige Geräusch im Raum.
»Als wir uns dann in Savannah wiederbegegneten, kam mir nie in den Sinn, mich zu fragen, ob wir uns wohl verlieben würden.« Seine Stimme war leise und weich. »Ich hatte mich schon zwanzig Jahre zuvor in sie verliebt.«
»Du sprichst von Liebe?«, sagte ich.
»Liebe«, sagte er, jetzt etwas lauter. »›… vermag die harte
Schale des Ichs zu zerbrechen, da sie eine Art biologischen Zusammenwirkens darstellt, bei der die Empfindungen jedes Partners zur Erfüllung des instinktmäßigen Wollens des andern nötig sind.‹ Das hat Bertrand Russell geschrieben.«
Mein Vater lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Warum so zweifelnd, Ari? Russell nannte die Liebe auch einen Quell der Freude und einen Quell des Wissens. In der Liebe braucht es das Miteinander und in diesem Miteinander wurzelt die menschliche Moral. In ihrer höchsten Form enthüllt die Liebe Werte, die wir anders nie erfahren würden.«
»Das klingt so abstrakt«, sagte ich. »Ich würde lieber wissen, was du gefühlt hast.«
»Nun, Russell hat in jeder Hinsicht recht. Unsere Liebe war ein Quell der Freude. Und deine Mutter stellte alle meine moralischen Grundsätze infrage.«
»Warum sagst du immer ›deine Mutter‹?«, fragte ich. »Warum nennst du sie nie bei ihrem Namen?«
Er löste seine Arme aus ihrer Verschränkung, legte die Hände im Nacken zusammen und sah mich ruhig an. »Es tut weh, ihn auszusprechen«, sagte er. »Selbst nach all den Jahren. Aber du hast recht - du musst wissen, wer deine Mutter war. Sie hieß Sara. Sara Stephenson.«
»Wo ist sie?« Ich hatte diese Frage vor langer Zeit schon einmal gestellt - vergeblich. »Was ist mit ihr passiert? Lebt sie noch?«
»Ich weiß es nicht.«
»War
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