Das Zeichen des Vampirs - The Society of S
vorbeikam, hörte ich eine Frau zu einem Kellner sagen: »Das ist die beste Bloody Mary, die ich je getrunken habe.«
Ich blieb stehen und betrat das Café. Der Kellner wies mir einen Platz auf der Terrasse zu. »Ich hätte gern das Gleiche«, sagte ich und zeigte auf das hohe, mit einer roten Flüssigkeit gefüllte Glas der Frau.
»Dürfte ich bitte vorher Ihren Ausweis sehen?«, fragte der Kellner.
Ich zeigte ihm den einzigen Ausweis, den ich bei mir hatte: meinen Bibliotheksausweis.
»Äh, ja«, sagte der Kellner und kam mit einem Glas zurück, das genauso wie das meiner Nachbarin aussah. Kannst du dir vorstellen, wie enttäuscht ich war, als ich merkte, dass in dem Glas nichts weiter als gewürzter Tomatensaft war?
Zwölftes Kapitel
Licht und Schatten: Beides ist notwendig, wenn man ein Bild malen oder eine Geschichte erzählen möchte. Um ein dreidimensionales Objekt auf einer zweidimensionalen Fläche abzubilden, braucht man Licht, um das Objekt zu formen, und Schatten, um ihm Kontur zu geben.
Beim Gestalten eines Bildes oder dem Erzählen einer Geschichte spielt man außerdem mit der Negativ- und der Positivfläche. Die Positivfläche ist das, worauf man den Blick des Betrachters lenken möchte. Die Negativfläche wird gar nicht bewusst wahrgenommen, aber nur durch sie kann die Positivfläche überhaupt ihre Wirkung entfalten. Kurz gesagt: Obwohl etwas gar nicht da zu sein scheint, ist es doch da. Die Abwesenheit meiner Mutter in meinem Leben war in vielerlei Hinsicht eine Anwesenheit. Selbst in den Jahren, in denen wir ihren Namen nicht erwähnten, wurden mein Vater und ich doch von ihr geprägt. Die Aussicht, sie jetzt vielleicht zu finden, war aufregend, ängstigte mich aber auch zugleich; sie drohte, alles Vertraute neu zu ordnen und zu ersetzen. Würde ich zur Negativfläche werden, wenn ich sie fand?
Die letzte Etappe meiner Reise war die einfachste von allen. Dank der amerikanischen Bundespost reiste ich sogar gratis nach Homosassa Springs.
Vom Café aus ging ich direkt zum nächsten Postamt und erkundigte mich beim Schalterangestellten, ob Briefe nach Homosassa Springs direkt zugestellt würden. Er sah mich an, als wäre ich verrückt. »Ich schreibe ein Referat über Briefzustellungssysteme«, erklärte ich entschuldigend.
Er sagte, die Post nach Homosassa Springs würde über das Verteilerzentrum in Lake Mary zugestellt werden. Also ließ ich mich von einem Postlastwagen genau dorthin fahren.
Ich kam mir ein bisschen so vor, als würde ich eine dieser modernen Gruselgeschichten nachspielen, von denen immer behauptet wird, ein Freund von einem Freund habe sie wirklich so erlebt: »Der unsichtbare blinde Passagier auf dem Beifahrersitz.« Aber der Fahrer merkte nichts und blickte nur dann in meine Richtung, wenn er in den Seitenspiegel schauen musste. Die Straße von Winter Park nach Lake Mary führte durch eine eintönige und flache Landschaft. Als wir das Verteilerzentrum erreicht hatten, war es nicht weiter schwierig, einen Lastwagen ausfindig zu machen, der mit Postsäcken beladen wurde, die Richtung Westen verschickt werden sollten. Der Fahrer pfiff unablässig vor sich hin, während die eintönige Ebene allmählich in eine sanft ansteigende Hügellandschaft überging. Am späten Nachmittag kam der Lastwagen schließlich in Homosassa Springs an, das sich in nichts von den anderen Kleinstädten unterschied, die ich gesehen hatte: Tankstellen, kleine Einkaufszentren, Handysendemasten. Und wieder einmal dachte ich: Wer sich jemals vor der Welt verstecken möchte, sollte in eine Stadt ziehen, wo jeder anonym ist.
Als der Fahrer ausgestiegen war, zog ich meinen Rucksack
unter dem Sitz hervor und kletterte hinaus. Hinter einer großen Eiche versteckt, machte ich mich wieder sichtbar und ging dann zum Postamt, das sich am anderen Ende des Parkplatzes befand. Die Frau hinter dem Schalter stand mit dem Rücken zur Tür und unterhielt sich gerade mit jemandem. Sie hatte dunkle Haare und war ungefähr mittleren Alters.
Ich zog das Fotoalbum aus meinem Rucksack und schlug es auf. »Entschuldigen Sie bitte, aber kennen Sie zufällig diese Frau?«, sagte ich, als sie sich mir zuwandte.
Die Angestellte blickte von mir auf das Foto und sah mich dann wieder an. »Möglich, dass ich sie hier schon mal gesehen hab«, sagte sie. »Warum?«
»Sie ist eine Verwandte.« Die Worte »meine Mutter« bekam ich gegenüber einer Fremden nicht über die Lippen.
»Haben Sie eine Adresse, unter der Sie zu
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