Das Zeichen des Vampirs - The Society of S
manche Orte mehr Unglück anziehen als andere?)
Als ich wieder in mich hineinhorchte, hatte sich der Aufruhr
in meinem Inneren gelegt. Die Vorstellung, dass wieder jemand auf die gleiche Art wie Reedy zu Tode gekommen war, war zwar entsetzlich, aber gleichzeitig lenkte dieser neuerliche Mord - wer auch immer ihn begangen hatte - die Aufmerksamkeit von mir ab, und darüber konnte ich nur froh sein. Ich dachte nicht lange darüber nach, wer es gewesen sein könnte - von den Tausenden von Vampiren, die da draußen lebten und auf alle möglichen Arten versuchten, zurechtzukommen, wie mein Vater mir erzählt hatte, hätte es jeder gewesen sein können. Ich hoffte nur, dass das Opfer ein schlechter Mensch gewesen war, der den Tod verdient hatte, auch wenn man mir beigebracht hatte, dass ein Mord durch nichts zu entschuldigen ist.
Dann fragte ich mich, was mich wohl in Sarasota erwarten würde. Ich holte das kleine Album mit den Hochzeitsfotos aus meinem Rucksack und betrachtete aufmerksam jedes einzelne Foto. Das strahlende Lächeln meiner Mutter sah aus, als wüsste sie nicht, was Sorgen und Verzweiflung waren, und doch wusste ich von meinem Vater, dass es in ihrem Leben - vor wie nach ihrer Hochzeit - immer wieder Phasen gegeben hatte, in denen sie unglücklich gewesen war. Warum nur war sie in die Stadt zurückgekehrt, in der sie geheiratet hatte? Die Erinnerung daran musste doch bestimmt schmerzhaft für sie gewesen sein.
Ich sah mir die Fotos ganz genau an: die tropischen Pflanzen im Hintergrund, die Kerzen und die Papierlaternen, in deren Schein die Zeremonie abgehalten worden war. Es waren nur wenig Gäste dabei gewesen; ein Foto zeigte meine Mutter mit einer stark geschminkten Tante Sophie und einem jüngeren und schlankeren Dennis (ich vermutete, dass mein Vater die Aufnahme gemacht hatte); auf einem anderen standen meine Eltern vor einer Frau in schwarzer Robe; sie drehte
der Kamera den Rücken zu, aber so wie sie dastanden, nahm ich an, dass es eine Geistliche war, die sie gerade zu Mann und Frau erklärte.
Als ich zur nächsten Seite blätterte, flatterte eine Postkarte zu Boden, die im Einband des Albums gesteckt hatte. Auf ihrer Vorderseite war ein plumpes Tier abgebildet, das durch türkisfarbenes Wasser glitt; ich bückte mich, um sie aufzuheben. Im Hinweistext auf der Rückseite stand, das Tier hieße Manati und werde auch Seekuh genannt. Ich kannte das Wort aus einem meiner Kreuzworträtselträume.
Auf der Rückseite stand in einer nach rechts geneigten Handschrift: »Sophie, ich habe ein neues Zuhause gefunden. Mach dir keine Sorgen um mich und bitte kein Wort zu den anderen.« Die Karte war nur mit »S.« unterschrieben.
Aber am meisten interessierte mich der Poststempel: »Homosassa Springs, FL.« Fünf S in einem Namen , dachte ich.
Als der Zugbegleiter das nächste Mal seine Runde durch das Abteil machte, winkte ich ihn zu mir. »Mir ist etwas ganz Dummes passiert«, sagte ich. »Ich habe aus Versehen ein Ticket mit falschem Reiseziel gekauft.«
Der Zugbegleiter schüttelte bedauernd den Kopf. Es schien ihm aufrichtig leidzutun, dass er mein Ticket nicht umtauschen konnte. Er erklärte mir, das sei nur an einem Fahrkartenschalter möglich, und gab mir den Rat, es am nächsten Bahnhof zu versuchen.
Und so stieg ich am nächsten Halt aus dem »Silver Star« aus. Der Schalterbeamte in dem kleinen Backsteinbahnhof des Örtchens Winter Park wies mich dreimal darauf hin, dass auf meinem Ticket ausdrücklich keine Rückerstattung stand. Dann wiederholte er noch dreimal, dass Amtrak den Eisenbahnverkehr an der Golf küste ohnehin eingestellt hätte.
Ich wusste immer noch nicht, wo Homosassa Springs lag, was für meine Verhandlungen wohl von Vorteil war. »Ich muss aber dringend meine Mutter finden«, sagte ich immer wieder verzweifelt, woraufhin er jedes Mal erwiderte: » Amtrak fährt aber gar nicht dorthin«, bis sich schließlich jemand hinter mir einmischte und vorschlug: »Sie könnte doch den Bus nehmen!«, und ein anderer hinzufügte: »Jetzt kommen Sie der Kleinen wenigstens ein bisschen entgegen.«
Der Schalterbeamte gab sich geschlagen, erstattete mir achtzehn Dollar zurück und beschrieb mir den Weg zum Busbahnhof (was nicht nötig gewesen wäre, weil ich gar nicht zum Busbahnhof wollte). Ich schlenderte stattdessen durch die von Geschäften und Cafés gesäumte Hauptstraße des kleinen Städtchens. Die Luft roch nach einem stehenden Gewässer und nach Parfum. Als ich an einem Café
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