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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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wissenschaftliche Interesse an Gedanken und Gefühlen, das für »Wien 1900« charakteristisch war.
    3 Breuer, J., »Beobachtung I. Frl. Anna O...«, in: S. Freud und J. Breuer, Studien über Hysterie , Leipzig/Wien 1895, S. 33.
    4 Gombrich, E. H., Reflections on the History of Art , hg. von R. Woodfield, Berkeley 1987, S. 211.
    5 Robinson, P., Freud and His Critics ,Berkeley 1993, S. 271.

KAPITEL 2
    DIE ERFORSCHUNG DER WAHRHEIT UNTER DER OBERFLÄCHE: URSPRÜNGE EINER WISSENSCHAFTLICHEN MEDIZIN
    D ie Wiener Medizinische Schule spielte eine zentrale Rolle bei dem für »Wien 1900« charakteristischen Versuch, Wissen zu vernetzen. Sigmund Freud und Arthur Schnitzler erhielten dort ihre Arztausbildung, und Klimts Denken über Kunst und Forschung wurde von der Schule beeinflusst. Über diese allgemeine kulturelle Leistung hinaus etablierte die Wiener Schule einen Standard der wissenschaftlichen Medizin, der die medizinische Praxis noch heute prägt.
    Wenn ein Patient heutzutage zu einem Arzt geht und über Kurzatmigkeit klagt, passiert wohl fast überall auf der Welt das Gleiche: Der Arzt nimmt ein Stethoskop, legt das Kopfstück an den Brustkorb der Person und hört auf die Geräusche der Lunge, während die Person atmet. Hört der Arzt ein Rasseln – abnorme Geräusche, die von Flüssigkeit in den Lungen hervorgerufen werden –, vermutet er möglicherweise, dass die Person an einem Herzschaden leidet. Dieser Eindruck wird bestätigt, wenn der Arzt auf den Brustkorb klopft und die Echos dumpfer klingen als normal. Daraufhin benutzt der Arzt erneut das Stethoskop, um dieses Mal nach Extrasystolen zu horchen, die mögliche Anzeichen für einen abnormen Herzrhythmus sind, sowie nach Herzgeräuschen, die Defekte an der Mitral- oder Aortenklappe des Herzens anzeigen könnten. Auf diese Weise kann ein geschulter Arzt mit einfachen, leicht verfügbaren Werkzeugen Fehlfunktionen von Herz oder Lunge diagnostizieren.
    Indem ein Arzt unserer Tage ein Stethoskop an die Außenseite des Körpers hält, um damit sorgfältig das darunter verborgene Innenleben zu untersuchen, folgt er wissenschaftlichen Richtlinien, die vor einem Jahrhundert an der Wiener Medizinischen Schule perfektioniert wurden. Das Erfolgsgeheimnis dieses modernen medizinischen Ansatzes besteht darin, hinter die äußeren Symptome zu schauen und zu den Krankheitsprozessen vorzustoßen, die unterhalb der Haut wirksam sind. Wie kam dieser Ansatz zustande?
    FÜR MODERNE HISTORIKER LIEGEN die Ursprünge der systematischen Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert, sodass es nicht weiter überrascht, dass die europäische Medizin bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts noch weitgehend vorwissenschaftlich war. Die wichtigsten Hilfsmittel zum Erkennen von Krankheiten waren zu jener Zeit der Bericht des Patienten und die Beobachtungen des Arztes am Krankenbett. Damals gehörten Natur- und Geisteswissenschaften noch nicht zwei verschiedenen Kulturen an; das Studium der Medizin war nicht nur wegen der heilenden Kräfte, die es verlieh, hoch angesehen, sondern auch wegen der umfassenden kulturellen Gelehrsamkeit, die es bot. Weil das Medizinstudium der beste Weg war, die natürliche Welt zu erforschen, studierten tatsächlich einige große Denker der französischen Aufklärung – Diderot, Voltaire und Rousseau – Medizin, um ihr humanistisches Wissen zu erweitern.
    Dass sowohl Kultur als auch Naturwissenschaft Schwerpunkte des Studiums waren, lag daran, dass selbst noch im 18. Jahrhundert viele Ärzte weitgehend so praktizierten, wie es der griechische Arzt Hippokrates 2000 Jahre zuvor vorgegeben und der in Griechenland geborene einflussreiche Arzt Galen, der in Rom wirkte, um das Jahr 170 systematisch niedergeschrieben hatte. Galen sezierte Affen, um den menschlichen Körper zu ergründen, und kam auf diese Weise zu einigen bemerkenswerten biologischen Erkenntnissen, wie beispielsweise, dass die Nerven die Muskeln steuern. Er verfolgte jedoch auch eine Reihe falscher Ideen über Biologie und Krankheiten des Menschen. Insbesondere behauptete er, wie auch Hippokrates, dass Krankheiten nicht durch spezifische Fehlfunktionen des Körpers hervorgerufen würden, sondern durch ein Ungleichgewicht in den vier Körpersäften Schleim, Blut, gelber Galle und schwarzer Galle. Überdies glaubte er, dass die vier Säfte auch geistige Funktionen steuerten. So sollte ein Übermaß an schwarzer Galle eine Prädisposition zu Depressionen bewirken.
    Dementsprechend konzentrierten sich Ärzte nicht

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