Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
entwickelte sich eine intensive Kollegialität, die die Kluft zwischen ihren Fachgebieten überbrückte.
Dank dieser strikten Kooperation konnte die Wiener Medizinische Schule nun effektiver als zuvor die am Krankenbett erlangten Erkenntnisse über eine Krankheit zu Erkenntnissen aus dem Autopsiesaal in Beziehung setzen und diese systematischen Korrelationen nutzen, um eine rationale, objektive Methode zum Verstehen der Erkrankung und somit zum Erreichen einer genauen Diagnose zu entwickeln. Das Verfahren ermöglichte ein neues Verständnis der klinisch-pathologischen Korrelation, die die moderne Medizin seitdem geprägt hat.
Rokitansky war in seinem Denken stark von dem großen italienischen Pathologen Giovanni Battista Morgagni beeinflusst, der im Gegensatz zu den Lehren Galens behauptet hatte, dass klinische Symptome von Schäden an einzelnen Organen hervorgerufen würden – Symptome seien die Schreie der leidenden Organe. Um eine Krankheit zu verstehen, müsse man zuerst den Herd der Krankheit im Körper finden. 9 Morgagni zeigte auch, dass man anhand von Leichenöffnungen Vermutungen überprüfen konnte, die bei einer klinischen Untersuchung aufgestellt worden waren. Aus seinen Lehren entwickelte sich die radikale neue Idee, eine Störung nach ihrem biologischen Ursprung zu benennen – wenn möglich, sogar nach dem spezifischen Organ, das ihr Ursprung war, wie Blinddarmentzündung, Lungenkrebs, Herzversagen oder Magenschleimhautreizung.
Laut Rokitansky sollte ein Arzt vor der Behandlung eines Patienten eine genaue Diagnose der Erkrankung erstellt haben. Eine genaue Diagnose könne aber nicht allein aufgrund einer Untersuchung des Patienten und der Bewertung von Anzeichen und Symptomen erfolgen, weil ein und dieselben Anzeichen und Symptome von verschiedenen Teilen desselben Organs oder sogar von unterschiedlichen Krankheiten hervorgerufen werden könnten. Ebenso wenig könne man die Anzeichen und Symptome allein aufgrund einer pathologischen Untersuchung nach dem Tod des Patienten beurteilen. Pathologische Untersuchungen müssten also möglichst immer mit klinischen Untersuchungen koordiniert werden.
Glücklicherweise ging Škoda bereitwillig auf Rokitanskys wissenschaftlichen Ansatz ein und übernahm ihn bei seinen Untersuchungen lebender Patienten. Als Spezialist für Herz- und Lungenerkrankungen brachte er die praktische Anwendung und theoretischen Grundlagen von Perkussion und Auskultation einen großen Schritt voran. Unter Verwendung von Laënnecs Stethoskop führte Škoda detaillierte Studien der Töne und Geräusche durch, die er beim Abhorchen der Herzen seiner Patienten hörte, und stellte dann eine Verbindung zu den Erkenntnissen her, die Rokitansky nach dem Tod der Patienten über Schädigungen des Herzmuskels und der Herzklappen erlangt hatte. Um die physische Grundlage der Herztöne besser zu verstehen, führte Škoda außerdem Experimente an den Leichen durch. Daraufhin war er erstmalig in der Lage, normale Herztöne, die durch das Öffnen und Schließen der Herzklappen verursacht wurden, von Herzgeräuschen aufgrund defekter Klappen zu unterscheiden. Auf diese Weise lernte Škoda nicht nur hervorragend, die verschiedenen Herztöne akustisch zu differenzieren, sondern entwickelte sich auch zu einem bemerkenswerten Interpreten ihrer anatomischen und pathologischen Bedeutung, womit er den Maßstab für die heutige medizinische Praxis vorgab.
Bei der Untersuchung der Lunge verfolgte Škoda einen ähnlich strikten Ansatz. Mit dem Stethoskop hörte er auf die Atemzüge der Patienten und kombinierte diese Wahrnehmungen dann mit den Techniken der Auskultation, die Josef Leopold Auenbrugger schon früher in Wien entwickelt hatte: Man klopfte auf den Brustkorb und horchte nach abnormen Geräuschen, die möglicherweise von Ergüssen in den Pleurahöhlen zwischen Lungenfell und Brustfell herrührten. Die durch Škoda erfolgten Verbesserungen der diagnostischen Präzision verschafften ihm internationale Anerkennung als Begründer der modernen körperlichen Untersuchung – dem ersten ausgewogenen, wissenschaftlich fundierten Ansatz zur Feststellung von Krankheiten. »[Dank Škoda] war … eine Sicherheit in die ärztliche Diagnose … gekommen, von der man früherhin nicht einmal eine Ahnung hatte«, 10 schreibt Erna Lesky. Bis heute werden die meisten Krankheiten, die auf Schädigungen der Herzklappen beruhen, zunächst am Krankenbett diagnostiziert, indem man den Patienten sorgfältig mit dem
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