Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Pendants gehörten alle größeren Krankenhäuser in den deutschsprachigen Ländern bereits seit 1750 einer Universität an. In Wien war die gesamte klinische Ausbildung Teil des akademischen Auftrags der Universität und musste deren hohen Qualitätsstandards genügen. Im Jahre 1850 hatte sich die Universität Wien zur größten und bekanntesten deutschsprachigen Universität entwickelt, und ihre medizinische Fakultät war wohl – neben der von Berlin – die beste Europas.
DIE ERSTEN SCHRITTE ZU EINER WISSENSCHAFTSBASIERTEN Wiener Medizin waren ein Jahrhundert zuvor erfolgt, als Kaiserin Maria Theresia die Universität Wien umstrukturiert hatte. Sowohl sie als auch ihr Sohn Joseph II . förderten hoch qualifizierte Medizin auch finanziell, weil die medizinische Ausbildung und Versorgung für das Wohl des Staates in ihren Augen unabdingbar war.
Maria Theresia suchte in ganz Europa nach einem hervorragenden Mediziner, der der führende Kopf dieser neuen Bestrebungen sein sollte, und verpflichtete 1745 den berühmten niederländischen Arzt Gerard van Swieten. Van Swieten gründete die Erste Wiener Medizinische Schule, wie sie heute genannt wird; mit ihr erlebte Wien die Wandlung medizinischer Quacksalberei auf der Basis humanistischer Philosophie und der Lehren von Hippokrates und Galen zu einer medizinischen Praxis, die auf den Naturwissenschaften aufbaute.
1783 gab Kaiser Joseph II . die Planung eines umfangreichen medizinischen Gebäudekomplexes in Auftrag und 1784 eröffnete van Swietens Nachfolger Andreas Joseph von Stifft das großartige Wiener Allgemeine Krankenhaus. Die kleineren Krankenhäuser im Umkreis von Wien wurden geschlossen und alle medizinischen Einrichtungen in diesem riesigen Komplex zentralisiert, der das Hauptgebäude, ein Gebärhaus, ein Findelhaus, ein Irrenhaus und das unmittelbar angrenzende Garnisonsspital umfasste. Als größte medizinische Einrichtung Europas wollte das Wiener Allgemeine Krankenhaus ein Zentrum für moderne, wissenschaftliche Medizin sein. So wurde die Medizinische Schule der Universität Wien laut Rudolf Virchow aus Berlin, dem Vater der Zellpathologie, zum »Mekka der Medizin«.
Abb. 2-1.
Carl von Rokitansky (1804–1878).
Rokitansky stellte die Medizin auf eine solide
wissenschaftliche Grundlage, indem er Korrelationen
zwischen Symptomen und den zugrunde liegenden
Erkrankungen herstellte. Vier Semester war er Dekan
der Wiener Medizinischen Schule und wurde 1852 zum
ersten frei gewählten Rektor der Universität Wien.
(Aufnahme um 1805).
1844 wurde Stifft als Leiter der Wiener Medizinischen Schule von Carl von Rokitansky abgelöst (Abb. 2-1), mit dem die Moderne Einzug in die Biologie und Medizin hielt. Inspiriert von Darwins Forderung, dass Menschen auf die gleiche Weise wie andere Tiere biologisch zu erforschen seien, stellte Rokitansky die ärztliche Praxis an der nunmehr »Zweiten Wiener Medizinischen Schule« im Laufe der folgenden 30 Jahre auf eine neue, wissenschaftliche Grundlage und wurde dadurch international berühmt.
DIE NEUE WISSENSCHAFTLICHE AUSRICHTUNG der Medizin gelang Rokitansky, indem er klinische Beobachtungen systematisch zu pathologischen Ergebnissen in Beziehung setzte. In Paris war jeder Kliniker sein eigener Pathologe. Demzufolge führten die Ärzte zu wenig pathologische Analysen durch, um wirkliche Experten im Diagnostizieren von Krankheiten zu werden. Rokitansky machte aus der klinischen Medizin und der Pathologie verschiedene Abteilungen und übertrug ihre Leitung je einem voll ausgebildeten, äußerst kompetenten Fachmann. Jeder Patient wurde von einem Arzt und nach seinem Tod von einem Pathologen untersucht, und dann stellten die beiden Mediziner zwischen ihren Untersuchungsergebnissen eine Verbindung her.
Diese Entwicklung hatte zwei Ursprünge. Erstens wurde, wie erwähnt, jeder Patient, der im Wiener Allgemeinen Krankenhaus starb, unter Aufsicht einer bestens ausgebildeten Person, dem Chefpathologen, obduziert. Im Jahre 1844 übernahm Rokitansky diese Position. In einer Zeitspanne von über 30 Jahren führten er und seine Mitarbeiter rund 60000 Autopsien durch, 8 die ihm enorme Kenntnisse über Erkrankungen der Organe und Gewebe verschafften. Zweitens arbeitete am Wiener Allgemeinen Krankenhaus ein großartiger Kliniker, Rokitanskys Student und Kollege Joseph Škoda. Škoda war in der klinischen Diagnose ebenso brillant wie Rokitansky in der pathologischen. In der Regel arbeiteten die beiden Männer zusammen, und zwischen ihnen
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