Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
auf die Stelle des Körpers, wo der Ursprung der Symptome lag, sondern auf den Körper in seiner Gesamtheit – vor allem darauf, das Gleichgewicht zwischen den vier Säften durch Behandlungen wie Aderlass und Entschlackung wiederherzustellen. 6 Trotz wiederholter Kritik an diesen Ideen, zum Beispiel aufgrund der von Andreas Vesalius in den 1540er-Jahren vorgenommenen anatomischen Sektionen, experimenteller Beobachtungen wie William Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs im Jahre 1616 und der Gründung der wissenschaftlichen Pathologie durch Giovanni Battista Morgagni im Jahre 1750, hielt der Einfluss von Galens Ideen auf die medizinische Ausbildung und klinische Praxis bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts an.
Ein großer Schritt hin zu einer eher systemischen, wissenschaftsbasierten Medizin gelang in Frankreich nach der Französischen Revolution, als eine Reihe königlich verordneter Beschränkungen der medizinischen Praxis und Durchführung von Autopsien aufgehoben wurden. Daraufhin reformierten französische Ärzte, Chirurgen und Biologen das Medizinstudium und die medizinische Praxis; die klinische Ausbildung in Krankenhaus oder Klinik wurde obligatorisch.
Die Pariser Schule der Medizin wurde zu jener Zeit von Jean-Nicolas Corvisart des Marets geleitet, Napoleons Leibarzt und einem Pionier der Diagnose durch Perkussion, oder Abklopfen des Brustkorbs, um zwischen einer Lungenentzündung und einem Herzfehler zu unterscheiden, die beide zu einem Lungenödem führen können. In den frühen Jahren der Pariser Schule der Medizin vollbrachten dort drei weitere Ärzte historische Leistungen – Marie François Xavier Bichat, René Laënnec und Philippe Pinel. Bichat verwies als einer der ersten Pathologen in Europa mit Nachdruck darauf, dass die Kenntnis der menschlichen Anatomie für die medizinische Praxis von grundlegender Bedeutung ist. Er entdeckte, dass jedes Körperorgan aus mehreren verschiedenen Gewebearten besteht, also aus Zellansammlungen, die eine gemeinsame Funktion ausüben. Die spezifischen Gewebe eines Organs, so behauptete Bichat, seien die eigentlichen Ziele von Krankheiten. Laënnec erfand das Stethoskop und nutzte es, um die verschiedenen Herztöne zu bestimmen und eine Verbindung zwischen ihnen und anatomischen Autopsiebefunden herzustellen.
Pinel begründete die medizinische Disziplin der Psychiatrie. Er führte humane, psychologisch orientierte Prinzipien in die Versorgung geisteskranker Patienten ein und versuchte, zu ihnen eine persönliche, psychotherapeutische Beziehung aufzubauen. Pinel ging davon aus, dass Geisteskrankheit eine medizinisch behandelbare Erkrankung sei, die auftrete, wenn Menschen mit einer erblichen Prädisposition für psychiatrische Störungen einer übermäßigen sozialen oder psychischen Belastung ausgesetzt seien. Diese Sichtweise kommt unserem derzeitigen Verständnis von der Ätiologie der meisten psychiatrischen Störungen sehr nahe.
Frankreichs Fähigkeit, neue Forschungsdomänen auszuweisen, fand Unterstützung durch ein zentralisiertes Bildungssystem mit hohen akademischen Standards sowie durch die nationalen Fortschritte in Biologie und Medizin. Die Pariser Schule der Medizin gab den Maßstab für medizinische Grundlagenforschung und klinische Praxis vor und bestimmte die Welt der europäischen Medizin von 1800 bis 1850.
Angesichts ihres brillanten Starts und der Präsenz wahrer Koryphäen der biologischen Forschung, wie Claude Bernard und Louis Pasteur, überrascht es, dass die klinische Medizin Frankreichs nach den 1840er-Jahren allmählich an Autorität einbüßte. Dies lag möglicherweise an dem politischen Konservatismus, der mit der Julimonarchie unter Louis-Philippe und dem Zweiten Kaiserreich unter Napoleon III . Einzug hielt. Das zentralisierte Bildungssystem Frankreichs erstarrte, was zu einer nachlassenden Kreativität und Qualität der Wissenschaft führte. 1850 hatte die französische Medizin, laut dem Historiker Erwin Ackerknecht, »ihr Pulver verschossen« und »sich in eine Sackgasse manövriert«. 7
Die Erschöpfung des Pioniergeistes in Frankreichs klinischer Praxis und Ausbildung äußerte sich bald in einer massiven Abwanderung ausländischer Medizinstudenten von Paris nach Wien und anderen deutschsprachigen Städten, die sich immer mehr durch die Gründung neuartiger wissenschaftsorientierter Universitäten und Forschungsinstitute sowie die Entwicklung einer laborbasierten Medizin auszeichneten. In krassem Gegensatz zu ihren Pariser
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