Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Versuchs, eine Illusion des wirklichen Lebens zu schaffen. Vielmehr versuchen die Künstler, ihre eigenen verborgenen Gefühle mithilfe ihrer Einblicke in die Psyche der Figuren zu vermitteln sowie durch die künstlerischen Techniken, die sie beim Schaffen ihrer Bilder anwenden.
Auf vergleichbare Weise wie Velázquez, doch zugleich auch völlig anders als er, beleuchten die österreichischen Expressionisten Kokoschka und Schiele die Emotionen ihrer Figuren; sie stellen sie in den Mittelpunkt des Gemäldes und lenken somit gezielt unsere Aufmerksamkeit darauf. Dass ihnen dies gelingt, verdanken wir der bemerkenswerten Zusammenarbeit der Hirnbahnen, mit denen wir uns bereits beschäftigt haben – und zusätzlich einiger, denen wir uns später zuwenden werden. Diese sind sogar noch feiner auf unsere Emotionen und die unserer Mitmenschen abgestimmt.
176 Spurling, H., Matisse – Der Meister: Eine Biografie 1909–1954 , übers. von J. Blasius, Köln 2005, S. 38.
KAPITEL 25
DIE BIOLOGIE DES ANTEILS DER BETRACHTER: MODELLE FREMDER GEDANKENWELTEN
A ls Alois Riegl und Ernst Gombrich die Idee vom »Anteil des Beschauers« formulierten, hatten sie im Sinn, dass einem Bild ohne die Beteiligung seiner Betrachter etwas fehlt. Diese nehmen ein Porträt in Augenschein, beachten insbesondere Gesicht, Hände und Körper der Figur, reagieren emotional darauf und versuchen zu verstehen, was der Künstler über die äußere Erscheinung und das Innenleben der Figur vermitteln möchte. Biologisch gesehen fordert die Reaktion auf das gemalte Abbild eines Menschen nicht nur Wahrnehmungsvermögen und Emotionen der Betrachter, sondern auch ihr Einfühlungsvermögen – die Fähigkeit, verschiedene Aspekte der Gedankenwelt einer anderen Person lesen zu können.
Die Biologie des Anteils der Betrachter beruht demzufolge letztlich auf unserem sozialen Gehirn, das unser perzeptuelles, emotionales und empathisches System umfasst. Wir reagieren so spontan auf Porträtmalerei, weil wir außerordentlich soziale und empathische Wesen sind und unser Gehirn biologisch darauf programmiert ist, Gefühle zu erfahren und auszudrücken. Wenn Sie und ich uns unterhalten, habe ich eine Vorstellung davon, worauf Sie hinauswollen, und umgekehrt. Entsprechend können wir beim Betrachten eines Porträts für einen Moment das Gefühlsleben der dargestellten Figur nachempfinden, soweit der Künstler es uns vermittelt. Wir erkennen es und können darauf reagieren. Diese soziale Fähigkeit ermöglicht uns nicht nur, auf Kunstwerke zu reagieren und diese Reaktion anderen Menschen mitzuteilen – sie verschafft uns in einem weiteren Sinne auch Zugang zur geistigen Welt einer anderen Person.
Laut den britischen Kognitionspsychologen Uta und Chris Frith vom University College London konstruieren wir mentale Modelle, um vorherzusagen, was eine andere Person tun wird, und um unsere eigenen Motive für bestimmte Verhaltensweisen zu überprüfen. Ihrer Ansicht nach gibt es wahrscheinlich zwei Ursachen für die besonderen Eigenschaften der sozialen Kognition beim Menschen. Erstens besitzen wir den angeborenen unbewussten Drang, unseren aktuellen Wissensstand mit dem von anderen Personen zu synchronisieren. Diese Neigung treibt uns dazu, Informationen auszutauschen. Im Grunde erfordert eine sinnvolle Kommunikation, zu wissen, was andere nicht wissen. Zweitens muss Wissen bewusst sein, um es mit anderen teilen zu können, und der größte Teil unseres Wissens ist im Gehirn in einer spezifischen Form repräsentiert, die sich ins Bewusstsein rufen lässt. Wenn wir, ob im wirklichen Leben oder in der Kunst, den Gefühlszustand eines anderen Menschen registrieren, aktiviert dies in unserem Gehirn automatisch und unbewusst eine Repräsentation dieses Gefühlszustands, einschließlich der entsprechenden unbewussten Körperreaktionen.
WAS SIND DIE BIOLOGISCHEN GRUNDLAGEN dieser Fähigkeit, den Gefühlszustand anderer Menschen zu lesen und darauf zu reagieren? Es gibt zwei separate, aber einander überlappende Komponenten: das Wahrnehmen der emotionalen Befindlichkeit einer Person mit entsprechenden eigenen Reaktionen und das Wahrnehmen des kognitiven Zustands dieser Person einschließlich ihrer Gedanken und Wünsche mit entsprechenden eigenen Reaktionen.
Um den Betrachtern den Gefühlszustand eines Modells zu vermitteln, bemühten sich die Vertreter der Moderne zunächst, diesen Gefühlszustand zu erfassen, und dann, ihre eigene emotionale, empathische und kognitive Reaktion
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