Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
österreichischen Expressionisten immer wieder mit großer Wirkung behandelt. Besonders bemerkenswert ist dabei Schieles Zeichnung Schiele mit Aktmodell vor dem Spiegel von 1910 (Abb. 24-3). Der voll bekleidete Schiele zeichnet eine nackte Frau, die vor ihm steht, aber ihm den Rücken zuwendet. Sie schaut in einen Spiegel, der in der Zeichnung nicht sichtbar ist. Da Schiele und die Frau beide vom Spiegel reflektiert werden, sehen die Betrachter die Frau von hinten und gleichzeitig die gespiegelte Vorderansicht beider Figuren. Wie Velázquez präsentiert sich Schiele als der Urheber des Bildes, doch er stellt nicht königlichen Prunk und Macht dar, sondern Erotik und Lust.
Abb. 24-3.
Egon Schiele, Schiele mit Aktmodell vor dem Spiegel (1910).
Bleistift auf Packpapier.
Die Frau ist nackt – abgesehen von Strümpfen, Stiefeln, Hut und Make-up. Diese wenigen Accessoires unterstreichen die Kleidungsstücke, die sie nicht trägt, und verstärken ihre erotische Wirkung. Indem Schiele Körperteile bedeckt, die normalerweise nicht unbedingt bekleidet sein müssen, betont er die unbekleideten. Zudem wirkt die Pose der Frau wie eine perfekte Karikatur: Sie hebt einen Aspekt des weiblichen Körpers übertrieben hervor, der schon an sich erotisch ist – ihre Hüfte. Wie Vilayanur Ramachandran dargelegt hat, verstärkt erotische Kunst die Merkmale, die Frauen am meisten von Männern unterscheiden, wie Brüste und Hüften. Schiele hat die Hüfte seines Modells brillant gezeichnet. Sie ist seitlich abgewinkelt, sodass sie schön zur Geltung kommt, die Taille ist schmal, der Po großzügig, genau wie Kurve und Länge des Oberkörpers. Die Schenkel sind einladend geöffnet, und die Schambehaarung gerade hinreichend angedeutet, um den Blick der Betrachter unwiderstehlich darauf zu lenken. Diesen Impuls verstärkt Schiele noch, indem er eine strikte senkrechte Linie vom Gesicht der Frau zu ihrer Scham verlaufen lässt.
Schiele scheint sein Modell von hinten zu malen, was zunächst einmal unschuldig und nicht übermäßig verführerisch wirkt. Doch indem er die Frau vor einen Spiegel platziert, stellt er ihren nackten Körper auch von vorne dar und dazu noch sich selbst, wie er sie zeichnet. Das Spiegelbild der Frau verrät nicht eindeutig, ob sie unbefangen für den Künstler posiert oder ob sie ihn verführen will. Ihr Hut ist modisch und ihre Pose vielsagend, während Schiele, der mit seinem Zeichenblock hinter ihr sitzt, mit durchdringendem Blick in den Spiegel schaut. Sein Blick ist voyeuristisch, doch die Frau scheint seine Anspannung gar nicht zu bemerken; sie spielt mit ihren Posen und betrachtet sich dabei im Spiegel. Dennoch besteht eine sexuell aufgeladene Atmosphäre zwischen den beiden, und die indirekte Verbindung zwischen Schieles intensivem Blick und den verführerischen Augen der Frau im Spiegel verstärkt den Eindruck, dass wir Zeuge einer erotischen Beziehung sind. Überdies rufen die verführerische Pose der Frau und ihr Spiegelbild eine lustvolle Reaktion im Betrachter wie auch im Künstler hervor. Diese Parallelität schafft eine Intimität zwischen Schiele und dem Betrachter.
Wie Vermeer greift auch Schiele auf einen Spiegel zurück, um auszudrücken, dass er fasziniert ist von direktem und indirektem Abbild, von äußerer Erscheinung und dem Privattheater des Geistes, von Sittsamkeit und Sinnlichkeit. Doch die doppelte Abbildung des Modells entblößt die Person im wörtlichen Sinne – im Spiegel ist sie zugleich ein Sexobjekt und eine faszinierende Frau mit einem reichen Innenleben. Ihre Haltung zum Künstler unterscheidet sie von Arthur Schnitzlers Fräulein Else, denn sie fühlt sich zu dem bekleideten Maler ebenso hingezogen wie er zu ihr. Auf diese Weise offenbart Schiele den unbewussten Trieb, von dem Freud behauptet, dass er unter der Oberfläche jedes Menschen schlummert. Es ist interessant, dass sowohl Schiele als auch sein Modell sich selbst fixieren, statt einander oder den Betrachter. Dies verdeutlicht ihre nach innen gerichtete Sexualität.
In Schiele mit Aktmodell vor dem Spiegel wie auch in anderen Werken Schieles und Kokoschkas ist die Gegenwart des Künstlers überdeutlich zu spüren – nicht nur, weil er persönlich in der Zeichnung erscheint, sondern auch, weil er seine Emotionen auf direkte und oftmals bestürzende Weise preisgibt. Im österreichischen Expressionismus sind die dargestellten körperlichen Merkmale von Künstler und Modell nicht mehr das Ergebnis des künstlerischen
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