Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
aus biologischen Bewegungen, insbesondere aus Blicken, analysiert. Wie erwähnt, sind Blicke ein äußerst wirkungsvolles soziales Signal: Ein erwiderter Blick signalisiert häufig eine Annäherung oder Bedrohung, während ein abgewandter Blick Unterwerfung oder Vermeidung signalisiert. Entsprechend ruft ein erwiderter Blick eine stärkere Aktivität im oberen temporalen Sulcus hervor als ein abgewandter.
Pelphrey behauptet, dass der obere temporale Sulcus die Blickrichtung einer Person nutzt, um zu bestimmen, worauf die Person ihre Aufmerksamkeit richtet oder ob sie an sozialer Interaktion interessiert ist. Wie wir gesehen haben, betrachten Autisten Gesichter ja auch auf eine andere Weise, als normal entwickelte Menschen es im Allgemeinen tun. Zudem hat Pelphrey herausgefunden, dass der obere temporale Sulcus bei Autisten nicht effektiv aktiviert wird.
Experimente mit bildgebenden Verfahren haben erbracht, dass eine Hirnregion in der Nähe des oberen temporalen Sulcus generelle Bewegungen anders verarbeitet als biologische Bewegungen. Diese Region, die Neurowissenschaftler als Areal V5 bezeichnen, ist in Abbildung 25-6 grün hervorgehoben. Nehmen wir an, wir spielen zwei Videos ab; auf dem einen sieht man einen springenden Ball, auf dem anderen eine gehende Person. Wenn wir nun die Aktivität in Hirnregionen aufzeichnen würden, die auf diese zwei Videos reagieren, so könnten wir sehen, dass sich ihre Reaktionen unterscheiden. Sowohl der springende Ball als auch die gehende Person würden im Areal V5 eine starke Aktivität auslösen, doch den oberen temporalen Sulcus würde nur das Video von der gehenden Person aktivieren. Neurowissenschaftler gehen davon aus, dass das Gehirn an genau diesem Punkt im Sehsystem biologische Bewegung als eine spezielle Bewegungsform erkennt.
Körperbewegungen sind nicht so eindeutig bestimmten Emotionen zuzuordnen wie Gesichtsausdrücke. So gibt es keine Körperhaltung, die stets und ausschließlich Angst signalisiert, genauso wenig, wie eine spezielle Körperhaltung immer Wut ausdrückt. Ist ein Mensch wütend, so ist an ihm möglicherweise eine Muskelspannung in Armen, Beinen und der gesamten Haltung zu beobachten. Vielleicht signalisiert er, dass er bereit zu einem körperlichen Angriff ist; das lässt sich an Haltung, Ausrichtung oder Handbewegungen ablesen. Doch alle diese Bewegungen können auch auftreten, wenn er Angst hat.
Wie Uta Frith als Erste vermutet hat, ist die Fähigkeit, zwischen biologischen und nicht-biologischen Gestalten und Handlungen zu unterscheiden, in der Evolution wie auch in der persönlichen Entwicklung höchstwahrscheinlich ein Vorläufer der Theory of Mind. Dass der obere temporale Sulcus, der für das Aufspüren biologischer Bewegungen zuständig ist, an die Hirnregion angrenzt, die für die Theory of Mind benötigt wird, lässt vermuten, dass die beiden Bereiche möglicherweise auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten. Die Fähigkeit, aus dem Verhalten einer Person auf ihre Absichten und Gefühlslagen zu schließen, hat man als Intentionalitätsdetektor bezeichnet; sie gilt als Komponente der Fähigkeit, die geistigen Zustände anderer Menschen zu erfassen.
Wie wir gesehen haben, reagieren Säuglinge schon wenige Tage nach der Geburt auf biologische Bewegungen. Diese Reaktion ist offenbar eine entscheidende Voraussetzung für ihre Bindung zur Mutter. Da sich der obere temporale Sulcus gemeinsam mit den Hirnregionen entwickelt, die am Erkennen von Gesichtern und Körperteilen sowie an Imitation und Theory of Mind beteiligt sind, haben sich Ami Klin und seine Mitarbeiter (2009) gefragt, ob kleine Kinder mit Autismus auf biologische Bewegungen reagieren. Sie entdeckten, dass zwei Jahre alte autistische Kinder keine Reaktion auf biologische Bewegungen zeigen, obwohl sie unter Umständen auf nicht-biologische Bewegungen reagieren, die normale Kinder wiederum ignorieren.
SOZIALE INTERAKTION ERFORDERT auch Imitation; darauf spezialisiert ist das vierte System des Netzwerks, das im Verbund mit den anderen Systemen das soziale Gehirn bildet. Imitation ist die Fähigkeit, die Handlungen anderer Menschen zu erkennen, im Gehirn zu repräsentieren und nachzuahmen, selbst wenn die Motivation für die Handlungen nicht eindeutig nachzuvollziehen ist. Imitation kann darüber hinaus Empathie hervorrufen und uns in die Lage versetzen, mit mehrdeutigen sozialen Situationen umzugehen. Sie ist demnach ein entscheidender Vorläufer sozialer Fertigkeiten und der Theory of
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