Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
eine komplexere Interpretation höherer Ebene zuzuweisen, wobei sie Signale wie Blicke und Körperbewegungen berücksichtigen und die gewonnenen Informationen nutzen, um Handlungen zu deuten und Rückschlüsse auf die Gedanken anderer Personen zu ziehen.
Nehmen wir an, Sie sehen, wie eine Frau nach einem Glas Wasser auf einem Tisch greift. Dank Ihrem oberen temporalen Sulcus können Sie deren Bewegung und Blickrichtung (in diesem Fall zum Glas hin) visuell repräsentieren. Diese visuelle Repräsentation gelangt dann zu den Regionen, die die Spiegelneuronen enthalten, welche Ihnen ihrerseits mit einer Art Simulation ermöglichen, die Handlung als Greifen zu repräsentieren. Diese Repräsentation wird darauf zum oberen temporalen Sulcus zurückgesandt, der weitere Informationen über den Kontext der Greifhandlung – wie der Blick der Frau zum Glas und ihre frühere Bemerkung, sie habe Durst – mit den Ergebnissen der Simulation koordiniert; demzufolge können Sie nun vorhersagen, dass die Frau die Absicht hat, das Glas zu ergreifen, es anzuheben und daraus zu trinken, und nicht etwa, es dem Herrn neben ihr zu reichen. Alle diese Prozesse erfolgen mehr oder weniger unbewusst, schnell und automatisch – dank der effizienten Kommunikation zwischen diesen Teilsystemen des sozialen Gehirns.
Es ist unwahrscheinlich, dass Spiegelneuronen unmittelbar zu einer Theory of Mind beitragen. Stattdessen sind sie vermutlich wichtige Vorläuferkomponenten, so wie die unbewusste emotionale Reaktion des Körpers auf Angst. Erstens wissen wir nicht einmal, ob Affen (die uns die aussagekräftigsten Daten über Spiegelneuronen geliefert haben) überhaupt eine Theory of Mind besitzen. Einige kognitive Studien legen nahe, dass die Theory of Mind eine spezifisch menschliche Fähigkeit ist. Zweitens liegen die Spiegelneuronen nicht in den Hirnregionen, die bei Menschen aktiv werden, welche an Experimenten über die Theory of Mind teilnehmen. Und schließlich lassen sich nicht alle Erfahrungen, die zu einer Theory of Mind beitragen könnten, erfolgreich imitieren.
IM JAHRE 1995 UNTERSUCHTEN Chris Frith und seine Mitarbeiter die Theory of Mind mithilfe von PET -Scans. Sie verglichen die Hirnaktivität bei zwei Gruppen von freiwilligen Teilnehmern: Einige hörten Geschichten, die eine Theory of Mind erforderten (da man sich gedanklich in die Lage einer anderen Person hineinversetzen musste), andere lauschten Geschichten, die das nicht voraussetzten. Dabei entdeckten die Forscher ein spezifisches Aktivitätsmuster. Geschichten, die eine Theory of Mind erforderten, aktivierten drei Areale: ein Areal im mittleren Segment des präfrontalen Cortex, ein Areal im vorderen Temporallappen und ein Areal des oberen temporalen Sulcus am Übergang vom Temporal- zum Parietallappen. Diese drei Areale fasste man unter der Bezeichnung Theory-of-Mind-Netzwerk zusammen. Frith und seine Mitarbeiter fanden diese drei Regionen bei späteren MRT -Untersuchungen bestätigt, wie auch Saxe und Kanwisher.
Wir nutzen das Theory-of-Mind-Netzwerk, um die Gedanken und Gefühle anderer Menschen zu erschließen oder zu verstehen. Eine Schädigung von mindestens einer der drei Hirnregionen beeinträchtigt diese Funktionen. Saxe und Kanwisher haben versucht, die Zahl der an der Theory of Mind beteiligten Hirnregionen auf nur eine von ihnen, den temporoparietalen Übergang, einzugrenzen (Abb. 25-7). Doch obwohl diese Region bei Theory-of-Mind-Tests äußerst stark und konsistent reagiert, lassen jüngere Studien vermuten, dass mindestens eine weitere Region, der mittlere präfrontale Cortex, für eine Theory of Mind benötigt wird.
Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass Spiegelneuronen das Lernen durch Imitation erleichtern und dabei einen notwendigen Schritt zu einer Theory of Mind ermöglichen. Sie leiten die entsprechenden Informationen an die Theory-of-Mind-Regionen weiter, was uns in die Lage versetzt, uns tatsächlich in eine andere Person »hineinzufühlen«. Somit kann man vielleicht sagen, dass die Spiegelneuronen der unbewussten Bottom-up-Verarbeitung von visuellen Reizen und Emotionen entsprechen, während die empathische Theory of Mind der bewussten Top-down-Verarbeitung entspricht, die auf Erinnerungen an frühere empathische Erfahrungen beruht.
Abb. 25-7.
Theory of Mind. Dieser neuronale Mechanismus läuft erwiesenermaßen ab, wenn man die Gedanken, Überzeugungen oder Wünsche einer anderen Person zu erfassen versucht.
Bei Untersuchungen über Empathie
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