Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
wir heute sagen – gestörte Kommunikationsfähigkeit und sozialer Rückzug sowie die Ichbezogenheit der Patienten. Kanner leitet seinen Aufsatz mit folgenden Worten ein:
Seit 1938 sind wir auf eine Reihe von Kindern aufmerksam geworden, deren Befinden sich so grundlegend und auf einzigartige Weise von allem bisher Beschriebenen abhebt, dass jedem einzelnen Fall eine eingehende Beschäftigung mit seinen faszinierenden Eigentümlichkeiten gebührt – und hoffentlich auch zuteil wird. 181
Darauf liefert er lebhafte Schilderungen der neun Jungen und zwei Mädchen, die seiner Meinung nach an dem betreffenden Krankheitsbild leiden. Kanners Beobachtungen sind sehr präzise und dienen als Richtlinie für die meisten wichtigen Merkmale des klassischen Autismus, wie Uta Frith in Autismus dargelegt hat. 182 Man geht nach wie vor davon aus, dass diese Merkmale – autistische Isolation, das Bedürfnis nach Eintönigkeit und Inselbegabungen, wie Frith festhält – trotz Variationen in den Einzelheiten und ungeachtet zusätzlicher Probleme in allen Fällen auftreten. Zur autistischen Isolation schreibt Kanner:
Die auffälligste, krankheitstypischste, grundlegende Störung ist die von Beginn des Lebens an bestehende Unfähigkeit der Kinder, zu Menschen und Situationen normale Beziehungen zu entwickeln. Von Anfang an ist eine extreme autistische Isolation auszumachen, die, wann immer möglich, alles, was von außen an das Kind herangetragen wird, missachtet, ignoriert, ausschließt. … Es hat eine gute Beziehung zu Objekten; es ist an ihnen interessiert, kann stundenlang zufrieden mit ihnen spielen. … Die Beziehung des Kindes zu anderen Personen ist dagegen ganz anders. … Tiefe Isolation bestimmt das gesamte Verhalten. 183
WAS MEINEN WIR MIT DER AUSSAGE, dass die Theory of Mind Menschen befähigt, einer anderen Person mentale Zustände zuzuschreiben, um das Verhalten dieser Person vorherzusagen? Frith und ihre Kollegen haben vermutet, dass die Theory of Mind einer angeborenen Erwartung an Menschen und Ereignisse entspricht, die ein Bestandteil des normalen geistigen Lebens ist. Frith sagt: »Unsere Untersuchungen beruhten auf der damals [1983] radikalen Annahme, dass das Gehirn des Kindes von Geburt an mit Mechanismen ausgestattet ist, die Wissen über wichtige Merkmale der Welt sammeln.« 184
Wenn das gesunde Gehirn über angeborene Mechanismen für soziale Interaktion und eine Theory of Mind verfügt, wo sind diese dann angesiedelt? Die Vorstellung, dass ein Netzwerk von Hirnstrukturen für soziale Kognition und die Theory of Mind zuständig ist, wurde erstmals 1990 von Leslie Brothers entwickelt. Aufgrund von weiteren Forschungen, die auf ihre bedeutende Arbeit folgten, glaubt man mittlerweile, dass das soziale Gehirn ein hierarchisches Netzwerk aus etwa fünf Systemen ist, die soziale Informationen verarbeiten und eine Theory of Mind ermöglichen (Abb. 25-2).
Abb. 25-2.
Flussdiagramm für neuronale Schaltkreise, die mit der Beteiligung der Betrachter und dem sozialen Gehirn zu tun haben.
Das erste System dient der Gesichtserkennung. Eine entscheidende Komponente dieses Systems sitzt mitten auf der Amygdala und analysiert Gesichtsausdrücke, um den Gemütszustand, insbesondere Angstgefühle, einer anderen Person zu interpretieren und zu bewerten. Das zweite System erkennt die physische Gegenwart einer anderen Person und die Handlungen, die diese Person vermutlich ausführen wird. Das dritte System interpretiert die Handlungen und sozialen Absichten anderer anhand einer Analyse biologischer Bewegungen. Das vierte System imitiert die Handlungen anderer mithilfe von Spiegelneuronen. Diese Neuronen feuern, wenn eine Person selber handelt oder wenn sie einer anderen Person bei der gleichen Handlung zusieht. An der Spitze des Netzwerks befindet sich ein fünftes System, das speziell für die Theory of Mind zuständig ist. Dieses System weist anderen Personen mentale Zustände zu und analysiert sie.
Wie erkennen wir Gesichter? Wie wir in Kapitel 17 gesehen haben, befinden sich im unteren Temporallappen mehrere Regionen zur Gesichtserkennung, die Informationen über verschiedene Aspekte der wahrgenommenen Gesichter verarbeiten (Abb. 17-5). Diese Gesichts-Flecken sind offenbar miteinander verknüpft und bilden ein System zur Verarbeitung einer Objektkategorie der oberen Ebene – Gesichter.
Abb. 25-3
Eine mögliche Ursache für die Probleme von Autisten, mit anderen Menschen zu interagieren, ist, dass sie Gesichter
Weitere Kostenlose Bücher