Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
Vom Netzwerk:
zeigte der Psychologe Kevin Ochsner von der Columbia University Versuchspersonen zuerst Videoclips über eine andere Person; danach sollten sie nachspielen, was diese Person fühlte. Ochsner bezeichnete dies als »aktive Empathie«, weil die Teilnehmer kognitiv auf die Handlungen und Bedürfnisse eines anderen reagieren und diese dann auch imitieren konnten. Er stellte fest, dass zum genauen Interpretieren des Gemütszustands, der auf dem Videoclip zu sehen war, sowohl die Spiegelneuronen als auch der temporoparietale Übergang aktiv sein mussten. Möglicherweise befähigt genau diese Kooperation der Hirnregionen, die mit biologischer Bewegung, Spiegelneuronen und Theory of Mind zu tun haben, auch die Betrachter von Kunstwerken dazu, die vom Künstler dargestellten Emotionen nachzuspielen und nachzuerleben (Abb. 25-6). Indem Künstler geschickt diejenigen Gesichts- und Körpersignale auswählen und häufig übersteigern, mit deren Hilfe diese Hirnregionen im täglichen Leben die Gefühle und Gedanken anderer Menschen lesen, aktivieren sie unsere angeborene Fähigkeit, ein Modell von der Gedankenwelt einer fremden Person zu erstellen.
    DIE HIERARCHIE DER HIRNSYSTEME, die eine Theory of Mind ermöglichen, steht in wechselseitiger und dynamischer Verbindung zur Amygdala und zu Teilen des präfrontalen Cortex. Wie wir gesehen haben, erfüllt die Amygdala bei der Verarbeitung von Gefühlen mehrere Funktionen und steuert zwei separate emotionale Systeme – positiver und negativer Art. Der präfrontale Cortex koordiniert die von der Amygdala ausgelösten Körperreaktionen und spielt in der sozialen Kognition eine wichtige Rolle. So befördert eine Region des präfrontalen Cortex das Entstehen von Empathie und auch von triadischer Aufmerksamkeit. Damit ist die Aufmerksamkeit gemeint, die zwei Personen einander und einer gemeinsamen Aufgabe widmen. Sowohl Empathie als auch triadische Aufmerksamkeit sind grundlegende Komponenten von sozialer Kognition und Zusammenarbeit.
    Letztlich kann man sagen, dass der Anteil der Betrachter einer Top-down-Verarbeitung unterliegt, bei der sie ihre Reaktionen auf ein bestimmtes Porträt mit anderen, ähnlichen Erfahrungen vergleichen. Doch die Fähigkeit, das Handeln einer anderen Person zu deuten – wie auch viele andere Aspekte sozialen Verhaltens, soweit sie für die Betrachter eines Kunstwerks relevant sind –, unterliegt darüber hinaus einer Bottom-up-Regulierung. Diese Steuerung erfolgt durch zwei chemische Transmitter im Gehirn, die mit Bonding und anderen sozialen Interaktionen zusammenhängen: Vasopressin und Oxytocin. Den beiden Botenstoffen widmen wir uns im nächsten Kapitel.
    Aufgrund dieser Ergebnisse lässt sich möglicherweise vorhersagen, dass es Autisten schwerfällt, als aktive Betrachter Anteil an einem Kunstwerk zu nehmen. Es ist schwierig für sie zu erschließen, was Künstler über den Gemütszustand ihrer Figuren aussagen möchten. Genau darauf wollte Uta Frith hinaus, als sie die sozialen Interaktionen erörterte, die in de la Tours Gemälde Der Falschspieler mit dem Karo-Ass beim Kartenspiel mitschwingen (Abb. 25-1). Wenn wir dem Drama, das sich in diesem Bild verbirgt, auf die Spur kommen wollen, üben wir uns in unbewusstem Gedankenlesen – und diese Fähigkeit ist bei Autisten unzureichend ausgeprägt.
    177 Gombrich, E. H., J. Hochberg und M. Black, Kunst, Wahrnehmung, Wirklichkeit , übers. von M. Looser, Frankfurt am Main 1977, S. 52.
    178 Gombrich, Hochberg und Black, Kunst, Wahrnehmung, Wirklichkeit , S. 52.
    179 Frith, C., Wie unser Gehirn die Welt erschafft , übers. von M. Niehaus, Heidelberg 2010, S. 199.
    180 Frith, U., Autismus: Ein kognitionspsychologisches Puzzle , übers. von G. Herbst, Heidelberg 1992,S. 171–173.
    181 Kanner, L., »Autistic Disturbances of Affective Contact«, Nervous Child 2 (1943), S. 217.
    182 Frith, Autismus ,S. 18.
    183 Kanner, »Autistic Disturbances of Affective Contact«, S. 242.
    184 Frith, U., Autism: Explaining the Enigma , 2. Aufl., Oxford 2003,S. 80.

KAPITEL 26
    WIE DAS GEHIRN EMOTION UND EMPATHIE STEUERT
    I n den voraufgegangenen Kapiteln haben wir die Hirnsysteme erörtert, die Emotionen und Empathie erkennen, beeinflussen und erzeugen. Diese grundlegenden neuronalen Schaltkreise nennen wir Übermittlungssysteme (Abb. 26-1). Um als Menschen effektiv zu funktionieren, müssen wir jedoch auch in der Lage sein, das Entstehen von Emotionen und Empathie vorherzusagen und zu steuern . Dafür sind die

Weitere Kostenlose Bücher