Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
vorherzusagen. Dies könnten wir – ohne diesen Begriff pejorativ zu gebrauchen – »psychologisieren« (mentalizing) nennen. …
Um den Sinn des Gemäldes zu »sehen«, müssen die verschiedenen Hinweise, die der Maler sorgfältig eingebaut hat, zusammenstimmen. … Einen deutlichen Hinweis geben die versteckten Asse. Gemäß unserer intuitiven Psychologie schließen wir, daß die anderen nicht wissen, was sie nicht sehen. Wir schließen auch, daß die anderen Spieler glauben, die Asse befänden sich im Stapel, weil wir wissen, daß dies der Spielregel entspräche.
Ein anderer Hinweis ist der starrende Blick der Dienerin. Wir schließen aus ihrer stehenden Position, daß sie die Asse hinter dem Rücken wohl gesehen hat und daher weiß, daß gemogelt wird.
Ein dritter Hinweis ist der seltsame Blick der Dame in der Mitte, die mit ihrem Finger auf den Betrüger weist. Die Dame weiß also Bescheid. Vielleicht weiß der Schwindler selbst nicht, daß sie es weiß. Sein Gesicht ist abgewendet, und er wirkt unbesorgt.
Ein letzter und ganz wichtiger Hinweis besteht darin, daß der dritte Spieler nicht von seinen Karten aufblickt. Der Maler will uns damit zu verstehen geben, daß jener nicht weiß, was vorgeht. Wir schließen, daß er derjenige ist, der betrogen wird, und daß er den Haufen Münzen verlieren wird, der jetzt vor ihm liegt. …
Bei unserem Verstehensprozeß des Dramas im Bild unterstellen wir verschiedene Arten von Wissen . Wir schließen beispielsweise, daß die Dame weiß , welchen Zweck der Betrug hat, oder daß der junge Mann nicht weiß , welche finsteren Machenschaften da vorgehen. Interessant ist aber, daß unsere Schlüsse sich sogar darauf erstrecken, welche emotionalen Zustände die Figuren erleben könnten (Überraschung, Zorn), doch wir werden im Ungewissen gelassen, was als nächstes passiert. Wird die Dame den Betrüger zur Rede stellen? Wird sie mit ihm gemeinsame Sache gegen den jungen Mann machen? Wird der junge Mann rechtzeitig gewarnt? Der Maler zwingt uns nur, bestimmte Zuschreibungen psychischer Zustände zu machen, doch das Ergebnis läßt er offen. 180
Die Idee von einer Theory of Mind brachte Sigmund Freud in den modernen wissenschaftlichen Diskurs ein; für ihn war sie inhärenter Bestandteil von seiner Vorstellung der psychoanalytischen Situation: Der Analytiker braucht Einfühlungsvermögen, um die Konflikte und Wünsche seiner Patienten zu verstehen.
FRITH UND IHRE MITARBEITER VERMUTETEN, dass autistischen Kindern die Fähigkeit fehlt, eine Theory of Mind zu bilden. Aus diesem Grunde sind sie nicht in der Lage, anderen Personen geistige Zustände oder Gefühle zuzuschreiben und können das Verhalten anderer nicht vorhersagen. So wie uns die Prosopagnosie (die Unfähigkeit, Gesichter zu erkennen) vieles über Lokalisierung und Art der Gesichtsrepräsentation im Gehirn verraten hat, wissen wir dank dem Autismus mittlerweile eine Menge über das soziale Gehirn und die Biologie der sozialen Interaktion und Empathie. Viele autistische Kinder wissen einfach nicht, wie sie mit anderen Menschen sozial kommunizieren sollen, weil sie nicht erfassen, dass diese anderen Menschen ihre eigenen Gedanken, Gefühle und Sichtweisen haben. Daher sind sie außerstande, sich in andere hineinzuversetzen oder ihr Verhalten vorherzusagen.
Zwei in Österreich geborene Kinderärzte haben den Autismus unabhängig voneinander entdeckt – Hans Asperger, der an der Kinderklinik der Universität Wien arbeitete, und Leo Kanner, der 1924 von Europa in die USA auswanderte. Im Jahre 1943, während seiner Zeit an der Johns Hopkins School of Medicine, schrieb Kanner den klassischen Aufsatz »Autistic Disturbances of Affective Contact«, in dem er elf Kinder mit frühkindlichem Autismus beschrieb. Ein Jahr später verfasste Asperger den klassischen Aufsatz »Die ›Autistischen Psychopathen‹ im Kindesalter«, der von vier Kindern mit Autismus berichtete.
Sowohl Kanner als auch Asperger gingen davon aus, eine angeborene biologische Störung vor sich zu haben, und nannten sie beide verblüffenderweise Autismus. Den Begriff hatte Eugen Bleuler in die klinische Literatur eingeführt, um bestimmte Aspekte der Schizophrenie zu charakterisieren. Als Direktor der Klinik Burghölzli, der Psychiatrischen Universitätsklinik von Zürich, war er Nachfolger von Auguste Forel, den Kokoschka in seinem berühmten Porträt dargestellt hatte. Mit autistisch bezog sich Bleuler auf die Negativsymptome der Schizophrenie, wie
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