Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
auf ungewöhnliche Weise verarbeiten. Wenn wir eine Person ansehen, schauen wir fast immer auf ihre Augen, wie Alfred Yarbus in seinen Experimenten über Augenbewegungen festgestellt hat (Abb. 25-3; siehe auch Kapitel 20). Kevin Pelphrey vom Yale Child Study Center führte ein ähnliches Experiment mit autistischen Kindern durch und fand heraus, dass diese Kinder nicht die Augen fokussieren, sondern den Mund (Abb. 25-4). Zudem entdeckte er, dass sich zwar alle Neugeborenen besonders für Augen interessieren, aber autistische Babys irgendwann im Alter zwischen sechs und zwölf Monaten ihre Aufmerksamkeit vornehmlich auf den Mund verlagern.
Abb. 25-4.
Augenbewegungsmuster bei einem Autisten und bei einer normalen Person.
Der erste Schritt, um die Handlungen einer anderen Person zu erschließen, ist häufig, noch vor dem Erkennen eines Gesichts, das Bewusstsein dafür, dass eine andere Person körperlich anwesend ist. Dieses Bewusstsein wird von der Area extrastriata des Okzipitallappens hervorgerufen. Nancy Kanwisher konnte mit bildgebenden Verfahren zeigen, dass diese Hirnregion selektiv auf Bilder des menschlichen Körpers reagiert. Diese Bilder von Körpern oder Körperteilen haben eine starke Wirkung und wecken unsere Aufmerksamkeit, selbst wenn wir uns auf eine andere Aufgabe konzentrieren.
Das Erkennen von Körperteilen lässt sich in zwei Kategorien aufteilen: eine egozentrische Perspektive, bei der wir beispielsweise unsere eigenen Hände oder Füße betrachten, und eine allozentrische Perspektive, bei der wir die Hände oder Füße eines anderen Menschen betrachten. Die Area extrastriata reagiert stärker, wenn wir den Körper einer anderen Person sehen. Dagegen reagieren einige Regionen des somatosensorischen Cortex stärker beim Betrachten des eigenen Körpers. Demzufolge unterscheidet das Gehirn zwischen visuellen und taktilen Informationen über eine andere Person und Informationen über uns selbst. Man geht davon aus, dass diese Hirnregionen, insbesondere die Area extrastriata, welche Informationen über andere Personen verarbeiten, das Tor zur höheren sozialen Kognition darstellen.
Für die Analyse biologischer Bewegungen, also die Bewegungen von Menschen und Tieren, ist ein anderer Hirnbereich entscheidend. Dieser Bereich – der obere temporale Sulcus – liegt auf der Oberfläche des rechten Temporallappens, nahe der Area extrastriata. Als soziale Wesen verfügen wir über eine hochentwickelte Fähigkeit, die Bewegungen anderer Menschen zu erkennen. Selbst nur skizzenhafte Bilder, die man erzeugt, indem man Positionslichter an den Hauptgelenken eines Menschen anbringt und dann die Bewegungen dieser Person im Dunkeln filmt, werden leicht als Greifen, Gehen, Rennen oder Tanzen identifiziert. Bereits wenige Tage alte Säuglinge betrachten solche Bilder aus wandernden Punkten aufmerksam. Auf biologische Bewegungen zu achten, gilt als grundlegende Voraussetzung für die frühe Fähigkeit des Babys, eine enge Verbindung zur Mutter aufzubauen, sowie für die spätere Fähigkeit, Emotionen wahrzunehmen, und schließlich für die Fähigkeit, eine Theory of Mind zu entwickeln.
Aina Puce und ihre Mitarbeiter entdeckten 1998 den oberen temporalen Sulcus als Codierer biologischer Bewegungen. Sie stellten fest, dass diese Region stärker auf Mund- und Augenbewegungen einer Person reagiert als auf Bewegungen, die nicht von einem menschlichen Körper ausgehen. 2002 zeigte Kevin Pelphrey darüber hinaus, dass diese Region zwar stark auf Bewegungen von Auge, Hand und Arm sowie auf Gehen und Tanzen reagiert, aber nicht auf gleichermaßen komplexe, jedoch nicht-biologische Bewegungen, wie die Bewegungen einer mechanischen Figur.
Die Entdeckung einer Hirnregion, die auf menschliche Bewegungen und Körperteile spezialisiert ist, hat zu der Annahme geführt, dass diese Region in dem für soziale Informationen zuständigen Netzwerk des Gehirns die Aufgabe hat, wahrgenommene Handlungen zu repräsentieren. Bei Affen reagieren Neuronen in dieser Hirnregion auf sozial relevante Signale, einschließlich der Ausrichtung von Kopf und Blicken. Außerdem hat Andrew Calder festgestellt, dass es im oberen temporalen Sulcus kleine Bereiche gibt, die auf verschiedene Bewegungskomponenten reagieren, so wie die Gesichts-Flecken auf verschiedene Aspekte von Gesichtern. Calders Entdeckung gab Anlass zu der Vermutung, dass der obere temporale Sulcus Handlungen und soziale Intentionen anderer Personen interpretiert, indem er Hinweise
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