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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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Stethoskop abhorcht und die Geräusche nach den von Škoda entwickelten Kriterien interpretiert.
    Während seiner Zusammenarbeit mit Škoda erklomm Rokitansky den Gipfel seines Ruhms. Ab 1849 veröffentlichte er sein Hauptwerk, das Handbuch der allgemeinen pathologischen Anatomie , das erste Lehrbuch über Pathologie. Es beschrieb die spezifische pathologische Anatomie der verschiedenen Organsysteme. Außerdem diente es Rokitansky als Plattform für die Verbreitung seiner Idee, dass ein Arzt den Ursprung und natürlichen Verlauf einer Krankheit erforschen müsse, um sie in voll entwickeltem Stadium verstehen und letztlich heilen zu können.
    IM ZUGE DIESER FORTSCHRITTE an der Medizinischen Schule strömten unzählige ausländische Studenten nach Wien. Die stetig wachsende Reputation der Schule und die Möglichkeit, dort Leichen sezieren zu können, lockten insbesondere amerikanische Studenten an, weil in den USA die Qualität der medizinischen Ausbildung und Praxis im 19. Jahrhundert noch sehr schlecht war. Die Pilgerströme der Studenten wurden noch verstärkt durch die Tatsache, dass die Ära Rokitanskys zeitlich mit dem Bau der Ringstraße und zahlreichen anderen Veränderungen zusammenfiel, die Wien in eine aufregende, moderne Metropole und eine der schönsten Städte Europas verwandelten.
    Die Ideengeschichtler und Philosophen Allan Janik und Stephen Toulmin behaupten, dass die Vereinigten Staaten ihre heutige Führungsrolle in der medizinischen Forschung zum Teil den Tausenden von Medizinstudenten verdanken, die zu einer Zeit, als der Qualitätsstandard der amerikanischen Medizin noch niedrig war, nach Wien reisten. Tatsächlich studierten mehrere Gründer der US -amerikanischen akademischen Medizin – William Osler, William Halsted und Harvey Cushing – Medizin in Wien, bevor sie ihre leitenden Positionen einnahmen.
    WAS ROKITANSKY ALS LEITER DER Wiener Medizinischen Schule leistete, war in seinen Bestandteilen – klinische und pathologische Studien – nicht neu, jedoch brillant in seiner Organisation, Ausführung und weitreichenden Bedeutung. Er machte die pathologische Anatomie nicht nur in Wien, sondern in der gesamten westlichen Welt zum wissenschaftlichen Kernbereich der akademischen Medizin. Indem er unterstrich, dass das biologische Verständnis einer Krankheit der Behandlung der Patienten vorausgehen müsse, traten er und die Dozenten der Universität Wien für Ideen ein, die mittlerweile das Fundament der modernen wissenschaftlichen Medizin bilden: Forschung und klinische Praxis sind nicht voneinander zu trennen und befruchten sich gegenseitig, der Patient ist gewissermaßen ein naturgegebenes Experiment, das Krankenbett das Labor des Arztes und das Lehrkrankenhaus der Universität die Schule, die sich mit solchen Experimenten der Natur befasst. Indem sie die verschiedenen Phasen einer Krankheit verglichen, lieferten Rokitansky und Škoda außerdem die wissenschaftliche Grundlage für das Konzept des Krankheitsverlaufs, also für die Vorstellung, dass jede Erkrankung eine natürliche Entwicklung aufweist und zwischen ihrem Ausbruch und Ende eine Abfolge bestimmter Schritte liegt.
    Da Rokitansky derjenige war, der in seinen Vorstellungen und seiner Lehre die verschiedenen biologischen Fäden vereinigte, deren Ursprünge in der französischen und italienischen Medizin des vorherigen Jahrhunderts lagen, war sein Einfluss auf die Medizin gewaltig. Überdies wandte er durch die systematische Entwicklung der klinisch-pathologischen Korrelation eine Erkenntnis auf die Medizin an, die von dem griechischen Philosophen Anaxagoras (500 v. Chr.), einem Begründer der Teilchentheorie, stammt: »Sicht des Nichtoffenbaren: das Erscheinende.« 11 Laut Rokitansky müssen wir hinter die äußere Erscheinung der Dinge schauen, um die Wahrheit zu entdecken. Über Theodor Meynert und Richard von Krafft-Ebing sowie deren Einfluss auf Josef Breuer, Sigmund Freud und Arthur Schnitzler fand diese Idee Eingang in die Neurologie, Psychiatrie, Psychoanalyse und Literatur. In Bezug auf die Entwicklung der Wiener Moderne ist besonders interessant, dass Rokitansky über seinen Anatomiekollegen Emil Zuckerkandl auch Klimt und die Wiener Expressionisten beeinflusste.
    Darüber hinaus wurde Rokitansky als Präsident der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften und Fachberater des Kultusministeriums zu Wiens führendem Advokaten der Wissenschaft, der sich leidenschaftlich für die Legitimierung einer Forschung ohne politisch

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