Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Patienten sezierte und Schäden in bestimmten Hirnregionen zu geistigen Defekten in Beziehung setzte. Er misstraute geschädigten Gehirnen und glaubte nicht, dass sie ihm etwas über normales Verhalten verraten würden. Stattdessen entwickelte er die Überzeugung, dass sich beim Nutzen einer geistigen Funktion der jeweils zuständige Hirnbereich vergrößern würde, so wie Muskeln durch häufige Beanspruchung an Masse zunehmen. Er glaubte, schließlich müsse eine bestimmte Region so dick werden, dass sie von innen gegen die Schädeldecke drücken und eine Beule verursachen würde.
Abb. 4-1.
Franz Joseph Gall entwickelte ein System namens Phrenologie, das spezifische geistige Funktionen spezifischen Hirnregionen zuordnete, ausgehend von Korrelationen zwischen der Persönlichkeit der betreffenden Versuchsperson und äußeren Abmessungen ihres Schädels.
Gall untersuchte die Schädel von Personen mit besonderen psychischen Stärken oder geistigen Anomalien, außerordentlich kluge Studenten und Menschen mit psychopathischem Verhalten, religiösem Wahn oder extremen erotischen Wünschen und überzeugte sich selbst davon, dass charakteristische Beulen mit diesen Merkmalen einhergingen. Gemäß seiner Theorie, eine exzessive Nutzung führe zu einer Vergrößerung, ordnete er jedem Merkmal diejenige Hirnregion zu, die unter der entsprechenden Beule lag. Seine Ergebnisse brachten ihm die weitere Erkenntnis, dass selbst die abstraktesten und komplexesten menschlichen Verhaltenszüge, wie Bedachtsamkeit, verschlossenes Wesen, Hoffnung, Sinn für Naturschönheiten und Kinderliebe, durch ganz bestimmte Bereiche der Großhirnrinde vermittelt würden. Wir wissen heute, dass diese Vorstellung völlig aus der Luft gegriffen war, auch wenn Galls allgemeine Theorie korrekt ist.
Ein überzeugenderer Ansatz zur Lokalisierung geistiger Funktionen gelang eine Generation später dem französischen Neurologen Pierre Paul Broca und dem deutschen Neurologen Carl Wernicke. Sowohl Broca als auch Wernicke führten postmortale Untersuchungen am Gehirn von Personen mit Sprachbehinderungen durch und stellten fest, dass spezifische Sprachstörungen mit Schädigungen spezifischer Hirnregionen einhergehen. Demnach lässt sich Sprache tatsächlich lokalisieren. Das Verstehen von Sprache ist im hinteren Teil der Hirnrinde (in der linken hinteren oberen temporalen Hirnwindung) angesiedelt, die Sprachproduktion im vorderen Teil (dem linken hinteren Frontallappen), und beide Bereiche sind über ein Bündel von Nervenfasern miteinander verknüpft.
Diese und andere Entdeckungen stützten eindeutig Galls generelle Überzeugung, dass geistige Funktionen verschiedenen Hirnbereichen zugeordnet werden können. Sie sprachen jedoch nicht dafür, dass komplexe geistige Funktionen wie die Sprache auf jeweils nur eine einzige Hirnregion beschränkt sind. Vielmehr zeigten die Erkenntnisse Brocas und Wernickes, dass solche Funktionen ein Netzwerk verknüpfter Bereiche voraussetzen (Abb. 4-2). Ihre Arbeiten zogen eine Flut weiterer Entdeckungen nach sich, darunter die genaue Bestimmung der Hirnrindenregion, die für Muskelbewegungen zuständig ist.
Diese Erkenntnisse waren ein herber Rückschlag für diejenigen Forscher, die glaubten, die Großhirnrinde fungiere als Einheit und ihre Teilbereiche seien im Allgemeinen nicht auf bestimmte Funktionen spezialisiert. Verfechter dieser Ansicht argumentierten fälschlich, nicht der Ort einer Hirnschädigung bestimme, welche geistigen Funktionen verloren gingen, sondern Ausmaß oder Umfang des Schadens.
Auch Carl von Rokitansky leistete Beiträge zur Hirnforschung. 1842, mit gerade 38 Jahren, entdeckte er, dass Stress und andere instinktive Reaktionen ihren Ursprung im Gehirn haben – genauer gesagt, in einer Region namens Hypothalamus, einer tief im Gehirn sitzenden kleinen, kegelförmigen Struktur. Rokitansky fand heraus, dass Infektionen an der Hirnbasis, die den Hypothalamus betreffen, die normalen Funktionen des Magens beeinträchtigen und häufig massive Magenblutungen verursachen. Diese Arbeit wurde später von dem Hirnchirurgen Harvey Cushing fortgeführt, der zeigte, dass Schäden am Hypothalamus Stress verursachen, der wiederum zu Magengeschwüren führen kann. Nachfolgende Forschungen anderer Wissenschaftler erbrachten, dass der Hypothalamus die Hirnanhangdrüse und das vegetative Nervensystem steuert; er spielt daher eine zentrale Rolle bei der Auslösung sexuellen, aggressiven und defensiven Verhaltens sowie
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