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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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motivierte Beschränkungen einsetzte. Seine Berufung ins Herrenhaus des Reichsrats durch Kaiser Franz Joseph machte Rokitansky zu einem öffentlich bekannten Intellektuellen. Er war ein überzeugender Wortführer und nutzte seinen gestiegenen Bekanntheitsgrad und Einfluss, um bei der Wiener Öffentlichkeit für seine Ideen zu werben. Noch lange nach seinem Tod beeinflussten seine Visionen nicht nur die Wiener Medizin, sondern auch die Wiener Kultur und gaben Anstoß für die Suche der Moderne nach den tiefgreifenden biologischen Gesetzmäßigkeiten, die menschliches Verhalten steuern.
    6 Nuland, S. B., The Doctors’ Plague: Germs, Childbed Fever, and the Strange Story of Ignac Semmelweis ,New York 2003, S. 64f.
    7 Ackerknecht, E. H., Medicine at the Paris Hospital 1794–1848 ,Baltimore 1963, S. 123.
    8 Rokitansky, O., »Carl Freiherr von Rokitansky zum 200. Geburtstag: Eine Jubiläumsgedenkschrift«, Wiener Klinische Wochenschrift 116, 23 (2004), S. 772–778.
    9 Nuland, The Doctors’ Plague , S. 64.
    10 Lesky, E., Die Wiener Medizinische Schule im 19. Jahrhundert , 2. Aufl., Graz/Köln 1978, S. 133.
    11 Lesky, Die Wiener Medizinische Schule im 19. Jahrhundert , S. 401.

Abb. 3-3.
Gustav Klimt,
Die Hoffnung I (1903).
Öl auf Leinwand.

KAPITEL 4
    DIE ERFORSCHUNG DES GEHIRNS UNTER DEM SCHÄDEL: URSPRÜNGE EINER WISSENSCHAFTLICHEN PSYCHIATRIE
    W er in der Moderne über den menschlichen Geist nachdachte, richtete sein Interesse verstärkt auf unbewusste Triebe, die das Verhalten steuern. Die Wiener Medizinische Schule trug dazu auf dreierlei Weise bei. Erstens untermauerte sie das Prinzip, dass alle geistigen Prozesse eine biologische Grundlage im Gehirn besitzen (die Biologie des Geistes). Zweitens vertrat sie die Ansicht, dass alle Geisteskrankheiten biologischer Natur sind. Und schließlich entdeckte Sigmund Freud als einer ihrer Vertreter, dass ein Großteil menschlichen Verhaltens irrational ist und auf unbewussten geistigen Vorgängen beruht. Daraus schloss er, wer die Komplexität des Unbewussten in biologischer Hinsicht verstehen wolle, müsse zuerst eine kohärente Psychologie des Geistes entwickeln.
    DIE VORSTELLUNG, DASS ALLE GEISTIGEN FUNKTIONEN im Gehirn verankert sind, stammte schon von Hippokrates, wurde aber weitgehend zurückgewiesen, bis Ende des 18. Jahrhunderts Franz Joseph Gall Psychologie und Hirnforschung zu verknüpfen suchte. Gall besuchte die Wiener Medizinische Schule von 1781 bis 1785. Nach dem Examen betrieb er in Wien eine äußerst erfolgreiche Praxis als Allgemeinmediziner. Die Verknüpfung von Psychologie und Biologie des Gehirns verhalf ihm außerdem zu einer zweiten Erkenntnis, die für die Biologie des Geistes von zentraler Bedeutung ist: Das Gehirn – und insbesondere seine äußere Schicht, die Großhirnrinde – fungiert nicht als ein einziges Organ. Daher lassen sich verschiedene geistige Funktionen unterschiedlichen Hirnbereichen zuordnen.
    Gall nutzte das, was man bereits über die Großhirnrinde wusste. Ihm war bekannt, dass sie zweiseitig symmetrisch und in vier Lappen aufgeteilt ist – den Frontal-, Temporal-, Parietal- und Okzipitallappen (Abb. 14-3). Er stellte jedoch fest, dass diese vier Lappen für sich genommen nicht geeignet waren, die rund 40 verschiedenen psychischen Funktionen zu erklären, die Psychologen bis 1790 identifiziert hatten. Aus diesem Grunde »begann er Hunderte von Köpfen von Musikern, Schauspielern, Malern, aber auch von Verbrechern zu befühlen und zu betasten, um unter der Bedeckung bestimmte knöcherne Erhabenheiten oder Vertiefungen durchzuspüren und sie mit bestimmten vorherrschenden Begabungen oder Fehlern ihrer Träger in Beziehung zu setzen.« 23 Aufgrund seiner Tastuntersuchungen teilte Gall die Hirnrinde grob in 40 Bereiche ein, die jeweils als ein Organ für eine spezifische geistige Funktion dienten. Intellektuelle Funktionen wie Vergleichen, Denken und Sprechen verortete er im vorderen Teil des Gehirns, emotionale Funktionen wie Kinderliebe, zarte Aufmerksamkeit (Verliebtheit) und Trotz im hinteren Teil sowie Gefühle wie Hoffnung, Verehrung und Glaube in der Mitte (Abb. 4-1).
    Während sich Galls Theorie, der Ursprung aller geistigen Prozesse liege im Gehirn, als richtig erwies, waren seine Methoden zur Lokalisierung der spezifischen Funktionen durch und durch fehlerhaft, weil sie nicht auf valider Evidenz beruhten, wie wir heute sagen würden. Gall überprüfte seine Ideen nicht empirisch, indem er die Gehirne von verstorbenen

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