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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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bei der Kontrolle von Hunger, Durst und anderen homöostatischen Funktionen.
    DER ERSTE PSYCHIATER, DER SICH unter die Schädeloberfläche vorwagte, um Geisteskrankheiten zu untersuchen, war Theodor Meynert. Er leistete drei wichtige Beiträge zur Erforschung der Hirnanatomie. Erstens untersuchte er, wie sich das Gehirn entwickelt. Vergleichsstudien von Menschen- und Tiergehirnen zeigten ihm, dass das menschliche Gehirn Bereiche besitzt, die über die Evolution hinweg erhalten geblieben sind; so sind die Basalganglien, die Reflexbewegungen steuern, und das Kleinhirn, das das Erlernen motorischer Fertigkeiten steuert, bei allen Wirbeltieren sehr ähnlich. Außerdem vermutete Meynert aufgrund Charles Darwins Überlegungen, dass sich die evolutionär älteren Regionen des menschlichen Gehirns zuerst entwickeln. Diese Vermutung veranlasste ihn zu der Behauptung, dass diese primitiven, unterhalb der Großhirnrinde sitzenden Strukturen unbewusste angeborene, instinktive Funktionen auslösen. Darüber hinaus nahm Meynert an, dass instinktive Funktionen von der Großhirnrinde gesteuert werden, die sowohl in der Evolution als auch in der menschlichen Entwicklung erst später ausgebildet wird. Meynert sah in der Großhirnrinde den exekutiven, »ichbildenden Funktionsherd« des Gehirns, der komplexes, bewusst gelerntes und reflexartiges Verhalten herbeiführt.

    Abb. 4-2.
Wernickes Modell komplexen Verhaltens: Komplexe Verhaltensweisen wie Sprache betreffen mehrere miteinander verbundene Hirnbereiche.
    Zweitens entdeckte Meynert im Verlauf seiner Vergleichsstudien über die Hirnanatomie die Korrelation zwischen den sehr großen Hinterbeinen des Kängurus, die das Tier zum Springen benutzt, und seiner außergewöhnlich großen motorischen Leitungsbahn. Auf diese Weise entdeckte er ein Grundprinzip der sensorischen und motorischen Repräsentation im Gehirn: Die Größe des Repräsentationsareals für ein Körperteil im Gehirn zeigt die funktionale Bedeutung dieses Körperteils für das Tier an.
    Drittens entdeckte Meynert, dass die Großhirnrinde aus sechs getrennten Schichten besteht, die jeweils von einer anderen Population von Nervenzellen gebildet werden. Außerdem fand er heraus, dass sich von einer Hirnrindenregion zur anderen zwar nicht die Zahl der Schichten, wohl aber deren Zelltypen ändern – unterschiedliche Rindenbereiche weisen leicht unterschiedliche Populationen von Nervenzellen auf.
    Diese drei Leistungen verschafften Meynert internationale Anerkennung, und dank Rokitanskys entschiedener Fürsprache stieg er schnell zum Direktor der Psychiatrischen Klinik an der Universität Wien auf. In dieser Funktion übertrug Meynert Rokitanskys Denkansätze auch auf das Gehirn. Er vertrat nachdrücklich die Forderung, »der Psychiatrie durch anatomischen Grundbau den Charakter einer wissenschaftlichen Disziplin aufzuprägen«. 24 Zu diesem Zweck unternahm er große Anstrengungen, verschiedene Geisteskrankheiten auf spezifische Anomalien in spezifischen Hirnregionen zurückzuführen. Die von Meynert begonnene Suche nach der anatomischen Grundlage von psychischen Störungen dauert bis heute an.
    Zusätzlich zu seiner Leistung, psychische Krankheiten im Gehirn genau zu verorten, widersprach Meynert der an österreichischen und deutschen medizinischen Hochschulen verbreiteten Ansicht, dass solche Krankheiten irreversible degenerative Prozesse (Demenzen) seien. Seine Forschungsergebnisse zeigten ihm zwei neue Aspekte von Geisteskrankheiten auf – dass Komplikationen in der Gehirnentwicklung ein prädisponierender Faktor für eine psychische Erkrankung sein können und dass, wie Philippe Pinel entdeckt hatte, bestimmte Psychosen reversibel sind.
    Diese letzte Ansicht ließ Meynert den Ausgang von Geisteskrankheiten optimistischer betrachten. Er führte den Terminus Amentia ein, um auszudrücken, dass bestimmte akute psychotische Episoden, die von einem Kopftrauma oder toxischen Substanzen herrührten, vollständig reversibel sein konnten. Die Identifikation einer gutartigen, heilbaren Psychose (heute als Meynert-Amentia bezeichnet) eröffnete eine neue Perspektive auf die Untersuchung psychischer Störungen. Es ist vermutlich kein Zufall, dass vier der ersten Personen, die – im Gegensatz zu der von Pinel angeregten unspezifischen, human-psychotherapeutischen Behandlung – aktive, spezifische Behandlungen in die Psychiatrie einführten, Studenten von Meynert waren: Josef Breuer und Freud, die Erkrankungen wie Hysterie

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