Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Hetärengesprächen befasst hat, beschreibt die Zeichnungen folgendermaßen:
Klimt porträtierte die Frauen im Rausch der Masturbation, illustrierte das erotische Potenzial der Selbstbetrachtung und nahm sich der Sinnlichkeit der lesbischen Liebe an. … Mit diesen Werken definierte Klimt einen modernen Frauentypus oder half ihn zu erschaffen. … Einer solchen Kühnheit begegnete man im Bereich der europäischen oder US-amerikanischen Kunst erst in den 1920er-Jahren wieder. … 81
Klimts Darstellung des erotischen Lebens von Frauen war für Wien um 1900 zwar radikal und innovativ, in der Kunstgeschichte aber durchaus nicht neu. Anschauliche, ja ausufernde erotische Schilderungen finden sich schon in der prähistorischen Kunst, und in der gesamten Geschichte blieb die Erotik, vor allem in der östlichen und indischen Kunst, ein zentrales Thema. Klimt wurde von japanischen Holzschnitten beeinflusst, etwa denen von Utamaro, der 1803 die zweibändige Serie Bilderbuch: Der lachende Trinker schuf. Dort wird dargestellt, dass Frauen sexuell unabhängig sein und sich selbst sexuelle Lust verschaffen können.
Auch in der frühen abendländischen Kunst wurde die Erotik häufig thematisiert, insbesondere bei den griechischen Stamnos-Vasen, den Statuen und Wandmalereien des römischen Pompeji sowie den Drucken von Giulio Pippi (Giulio Romano). Die großen venezianischen Vertreter des Manierismus (der sensuellen Malerei) – Giorgione, Tizian, Tintoretto und Veronese – zelebrierten allesamt den weiblichen Akt, wie auch ihr Mentor Raffael und ihre Schüler Rubens, Goya, Poussin, Ingres, Courbet, Manet und Rodin. Überdies stellten sowohl Giorgione als auch Tizian die römische Liebesgöttin Venus masturbierend dar (Abb. 8-4 bis 8-9).
80 Westheimer, R., The Art of Arousal , New York 1993, S. 147.
81 Natter, T., »Gustav Klimt and the Dialogues of the Hetaerae: Erotic Boundaries in Vienna around 1900«, in: Gustav Klimt: The Ronald S. Lauder and Serge Sabarsky Collections , hg. vonR. Price, New York 2007, S. 135.
Abb. 8-4.
Giorgio da Castelfranco, Schlummernde Venus (1508–1510).
Öl auf Leinwand.
Abb. 8-5.
Tizian, Venus von Urbino (vor 1538).
Öl auf Leinwand.
Abb. 8-6.
Francisco José de Goya y Lucientes, Die nackte Maja (um 1800).
Öl auf Leinwand. Spiegelverkehrte Darstellung.
Abb. 8-7.
Édouard Manet, Olympia (1863).
Öl auf Leinwand.
Abb. 8-8.
Gustav Klimt, Liegender Frauenakt nach rechts (1912–1913).
Bleistift, roter und blauer Farbstift.
Spiegelverkehrte Darstellung.
Abb. 8-9.
Amedeo Modigliani, Liegender Frauenakt auf weißem Kissen (1917–1918).
Öl auf Leinwand.
In Giorgiones Schlummernde Venus (1508–1510) wie auch in Tizians Venus von Urbino (vor 1538) liegt die Hand der Göttin über der Scham – nicht mit gestreckten, sondern gekrümmten Fingern. Diese Haltung ist so subtil und vieldeutig, dass die Erotik der Gemälde von ihren Betrachtern nur zu leicht verdrängt und als Darstellung weiblicher Sittsamkeit statt Masturbation gedeutet werden kann – was in der Tat auch immer wieder geschieht. In seinem Kapitel über die »Zensur der Sinne« in The Power of Images unterstreicht der Kunsthistoriker David Freedberg, dass mit wenigen Ausnahmen selbst professionelle Kunsthistoriker ihre eigenen sexuellen Reaktionen unterdrückt und diesen Aspekt der Gemälde nicht kommentiert haben, um sich stattdessen auf ikonografische Lesarten, die ästhetische Beurteilung von Form, Farbe und Komposition sowie weitere interessante Merkmale zu konzentrieren. Im Gegensatz dazu ist es nahezu unmöglich, beim Betrachten von Klimts sich befriedigenden Nackten die Wahrnehmung dieser Tatsache oder eine sexuelle Reaktion darauf zu vermeiden.
Der großen historischen Tradition des Aktes in der abendländischen Kunst – mit Giorgiones und Tizians Venus, Goyas Die nackte Maja (um 1800) und Manets Olympia (1863) – fügte Klimt eine durch und durch modernistische Perspektive hinzu. Selbst Manets Olympia , die eine reale, moderne Frau statt der jungfräulichen Venus repräsentiert, fehlt die unverblümte Sexualität von Klimts Zeichnungen. Anders als viele abendländische Künstler vor ihm wurde Klimt von keinerlei Sündenbewusstsein geplagt und verspürte daher auch nicht die Notwendigkeit, die Sexualität seiner Modelle zu verschleiern. Die Nackten in seinen Zeichnungen heben sich von ihren Vorgängerinnen nicht nur dadurch ab, dass sie statt mythologischer Figuren unzensierte Frauen aus Fleisch und Blut sind – sie
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