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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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symbolisch oder zu schwer verständlich. Überdies wurden die von Klimt gemalten Körper als hässlich empfunden. Der Wortführer der unzufriedenen Professoren war der Philosoph Friedrich Jodl, der erklärte, man protestiere nicht gegen die nackte Kunst, sondern gegen die hässliche Kunst.

Abb. 8-12.
Gustav Klimt,
Medizin (1900–1907).
Öl auf Leinwand.
1945 durch einen Brand zerstört.

Abb. 8-13.
Tommaso Masaccio, Dreifaltigkeit (1427–1428).
Fresko.

Im 16. und 17. Jahrhundert waren die Vereinigten Niederlande mit Holland als Hauptprovinz eine demokratische Gesellschaft, die von gegenseitigem Respekt und bürgerlicher Verantwortung geprägt war. Laut Riegl widersprach die – mit einigen Ausnahmen – in der italienischen Malerei offenbarte hierarchische Anordnung dem ästhetischen Anspruch der egalitären holländischen Künstler, die in ihren Handlungen und ihrer Arbeit die »Achtsamkeit« oder respektvolle Toleranz untereinander betonten. Die holländischen Künstler waren die Ersten, die dem gesellschaftlichen Status die Gleichheit der Menschen entgegensetzten. Demnach besteht in Frans Hals’ Gemälde Bankett der Offiziere der St. Georg-Schützengilde in Haarlem von 1616 (Abb. 8-14) zwar eine Hierarchie, doch wird zugleich ein allen gemeinsames Wertesystem betont, an dem sogar die Bediensteten Anteil haben.

    Abb. 8-14.
Frans Hals, Bankett der Offiziere der St. Georg-Schützengilde in Haarlem (1616).
Öl auf Leinwand.
    Im Gegensatz zur inneren Einheit Masaccios schufen die holländischen Künstler eine »äußere Einheit«, bei der die Beteiligung des Betrachters für die Vollendung der Erzählung und des Bildes eine zentrale Rolle spielt. Nicht nur die Personen innerhalb eines Bildes sind gleichberechtigt – sie wirken auch aktiv auf die Betrachter außerhalb des Bildes ein und stehen mit diesen auf einer Stufe. In einigen frühen Werken erreicht der Künstler dies hauptsächlich über den Augenkontakt; in späteren Bildern wird der Betrachter eingeladen, in die vom Gemälde erzählte Geschichte einzutreten. Dass Riegl die »Hineinziehung des betrachtenden Subjekts« erkannte, beeinflusste unser Denken über die Reaktion der Rezipienten auf Kunst immens, wie wir noch sehen werden. Gombrich griff diese Idee später wieder auf und sprach vom »Anteil des Beschauers«.
    Der Kunstkritiker Wolfgang Kemp behauptet, dass Klimts Werk Schubert am Klavier (Abb. 8-15), das er 1899, zwei Jahre nach Franz Schuberts 100. Geburtstag, malte, als Weiterführung der holländischen Gruppenporträts zu sehen sei. Wie die holländischen Gemälde wird es ganz von einer »Ethik der Aufmerksamkeit« geprägt – Schuberts Aufmerksamkeit gilt der Musik, die Aufmerksamkeit der vier Zuhörer gilt Schubert, und eine Zuhörerin (die links stehende Frau) richtet ihre Aufmerksamkeit auf den Betrachter, womit dieser zu einem Teil des Bildes wird und der Kreis sich schließt.
    Im Hinblick auf die Rolle der Betrachter verfolgten Klimt, Kokoschka und Schiele zwei Ziele. Zum einen wollten sie mit ihrer Kunst eine äußere Einheit schaffen, bei der die Betrachter nicht sozial, sondern emotional auf einer Stufe mit den Personen im Gemälde stehen – gewissermaßen auf derselben empathischen Ebene. Während die holländischen Maler die Betrachter in den physikalischen Raum des Bildes eintreten ließen, luden die Wiener Künstler sie ein, in den emotionalen Bereich einzudringen. Indem sie die Empathie der Betrachter weckten, ermöglichten sie ihnen, sich mit der Person im Gemälde zu identifizieren und deren Instinkte und Triebe zu erspüren. Die Komposition der Wiener Bilder war ganz auf eine emotionale Reaktion ausgerichtet – anders als bei den holländischen Gemälden, in denen häufig große Gruppen von Menschen in sozialem Miteinander dargestellt waren, zeigten die Wiener Gemälde typischerweise Individuen oder kleine Gruppen von zwei oder drei Personen in privaten Kontexten; mit diesen Personen konnten sich die Betrachter identifizieren – sie wurden unmittelbar von ihnen angesprochen, ohne formelle Barrieren der Komposition, Pädagogik oder Sittlichkeit.

    Abb. 8-15.
Gustav Klimt, Schubert am Klavier (1899).
Öl auf Leinwand.
Im Zweiten Weltkrieg zerstört.
    Da zum anderen eine äußere empathische Einheit selektiver und schwieriger zu erreichen ist als eine äußere soziale Einheit, betrachteten sich die Wiener Künstler nicht als Unterweiser der breiten Öffentlichkeit, sondern richteten sich an eine handverlesene Gruppe, die ihre

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