Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Werte teilte oder sie bereitwillig übernahm. Klimt und seine Schüler versuchten, ihren Rezipienten eine neue, stärker von emotionaler Introspektion geprägte Sichtweise auf die Kunst und sich selbst zu vermitteln, die der Psyche des Modells gerecht wurde und damit auch die in jedem Menschen präsenten Ängste und instinktiven Triebe beleuchtete. Um unbewusste Gefühle auszudrücken, stellten die Künstler die menschliche Gestalt übertrieben und verzerrt dar. So wollten sie in modernen, weltlichen Betrachtern die gleiche Art von mächtigen Emotionen wecken, die die gotische Bildhauerei und manieristische Kunst in religiösen Betrachtern hervorgerufen hatten; doch anstatt sich wie die religiöse Kunst auf bewusstere Gefühle, wie Todesqualen, Mitleid und Furcht, zu konzentrieren, richtete die Kunst der österreichischen Moderne den Blick auf unbewusste Ekstase und Aggression.
Indem Riegl, Wickhoff und ihre Studenten die Wiener Schule der Kunstgeschichte vom Klassizismus zur Moderne führten, betraten sie neue Wege zwischen Tradition und Innovation und initiierten ein neues philosophisches Interesse an den sich wandelnden Auffassungen über Schönheit. Für Max Dvořák und Otto Benesch, zwei jüngere Mitarbeiter Riegls an der Wiener Schule, verkörperte der österreichische Expressionismus Innovation und jene sich wandelnden Schönheitsideale. Dvořák, der Ernst Kris’ Mentor war, setzte sich für Kokoschka ein, und Benesch unterstützte Schiele.
Abb. 8-16.
Otto Schmidt, Weiblicher Akt (um 1900).
Fotografie (Detail).
Abb. 8-17.
Gustav Klimt, Sitzender weiblicher Akt, Arme hinter dem Kopf verschränkt (1913). Bleistift auf Papier.
KLIMT VERLETZTE DIE REAKTION AUF seine Deckengemälde tief. Er wollte nicht, dass Personen, die seine Auffassung über die von Kunst zu vermittelnden Inhalte nicht teilten, seine Gemälde besaßen und betrachteten, und kaufte die Bilder daher einfach zurück. Erneut wandte er den Blick nach innen und verarbeitete die expressionistischen Themen, die in den Deckengemälden bereits aufschienen, verstärkt in seinen Jugendstilbildern.
Abb. 8-18.
Otto Schmidt, Weiblicher Akt (um 1900).
Fotografie.
Abb. 8-19.
Gustav Klimt, Sitzender Akt mit verdecktem Gesicht (1913).
Bleistift auf Papier.
Wie viele andere Künstler seiner Zeit war sich Klimt der immer besseren Technik und wachsenden Popularität der Fotografie bewusst, die sich auch 1850 im Aufkommen der Aktfotografie in Paris offenbarte. Klimt reagierte auf den Realismus der Fotografie, indem er in seinen Gemälden die Wandlung von einer eher naturgetreuen Darstellung zu einer symbolhafteren Repräsentation vollzog (Abb. 8-16 bis 8-23). Gombrich hat dies auf den Punkt gebracht:
… der Fotograf übernahm allmählich die Funktionen, die einst der Maler erfüllt hatte. Und so begann die Suche nach alternativen Nischen. Eine Alternative bot die dekorative Malerei, das Aufgeben des Naturalismus zugunsten formaler Harmonie; die andere lag in der neuen Betonung der poetischen Imagination, die über die bloße Illustration hinausging, indem sie durch eindringliche Symbole träumerische Stimmungen erzeugte. Die beiden Alternativen waren keineswegs unvereinbar – zuweilen verbanden sie sich im Werk einzelner Meister des Fin de Siècle. Zu ihnen gehörte natürlich Gustav Klimt, dessen kontroverse Gemälde die Wiener Kunstszene … um 1900 beherrschten. 88
88 Gombrich, E. H., Kokoschka in His Time , London 1986, S. 14.
Abb. 8-20.
Otto Schmidt, Weiblicher Akt (um 1900).
Fotografie.
Abb. 8-22.
Otto Schmidt, Weiblicher Akt (um 1900).
Fotografie.
Abb. 8-21.
Gustav Klimt, Nach rechts liegender Akt mit aufgestelltem linken Bein (um 1908).
Blauer Farbstift auf Papier.
Abb. 8-23.
Gustav Klimt, Liegender Halbakt (1914).
Bleistift auf Papier.
Die Zartheit von Klimts Zeichnungen und seine Einblicke in das Innenleben der von ihm gezeichneten Frauen stehen in krassem Gegensatz zur damaligen Fotografie. Klimts Frauen schaffen einen sinnlichen Tagtraum, ihre eigene Welt, die nur sie allein bewohnen, sich selbst genügend und ungehemmt, ohne für irgendeine Kamera zu posieren. Oft umgibt sie der Künstler mit ikonischen, sexuell symbolischen Ornamenten, die den Eindruck eines Tagtraums noch verstärken und die Kluft zwischen der tiefgründigen Erforschung der weiblichen Psyche in den Zeichnungen und der Realität der Fotografie weiter vergrößern (Abb. 8-1, 8-2, 8-17, 8-19, 8-21, 8-23).
DIE ENTWICKLUNG VON KLIMTS STIL zwischen 1898 und 1909
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