Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Und im Jahre 1891 widmete Freud seine erste Monografie, Zur Auffassung der Aphasien , Breuer »in freundschaftlicher Verehrung«.
Breuer, ebenfalls Jude und 14 Jahre älter als Freud, war 1859 an die Wiener Medizinische Schule gekommen. Dort studierte er bei Rokitansky und Škoda und wurde auch stark von Brücke beeinflusst. Nach dem Examen wurde er Forschungsassistent an der Medizinischen Schule. Seinen wissenschaftlichen Ruhm erwarb er mit zwei weltweit anerkannten Entdeckungen: dass die Bogengänge im Mittelohr diejenigen Organe sind, die den Gleichgewichtssinn steuern, und dass die Regulierung der Atmung reflexhaft über den Vagusnerv erfolgt (Hering-Breuer-Reflex). Doch vor allem Breuers dritte Entdeckung, unter Beteiligung einer Patientin, die unter ihrem Pseudonym »Anna O.« Geschichte geschrieben hat, faszinierte Freud und leitete die zweite Phase seiner Karriere ein. Tatsächlich wurde Breuer und Freud durch Anna O. die Richtung gewiesen, die sie zu einer der bedeutendsten Beiträge der Wiener Medizinischen Schule führen sollte – der in einem klinischen Kontext gemachten Entdeckung, dass es unbewusste geistige Prozesse gibt, dass unbewusste geistige Konflikte psychiatrische Symptome hervorrufen können und dass sich diese Symptome lindern lassen, wenn deren zugrunde liegende, unbewusste Ursache den Patienten bewusst gemacht wird.
Die Psychoanalyse, die aus der bahnbrechenden Zusammenarbeit mit Breuer erwuchs, wurde von Freud als eine dynamische, introspektive Psychologie entwickelt, als ein Vorläufer der modernen Kognitionspsychologie. Doch die Psychoanalyse hatte eine entscheidende Schwäche: Sie war nicht empirisch und daher einer experimentellen Prüfung nicht zugänglich. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sich die Komponenten von Freuds Theorie des Geistes als falsch erwiesen haben und die Annahmen einer Reihe weiterer Komponenten der psychoanalytischen Theorie bisher noch nicht geprüft wurden.
Dennoch haben sich drei Schlüsselideen Freuds gut behauptet und sind heute zentrale Bestandteile der modernen Neurowissenschaft. Die erste Idee lautet, dass uns der größte Teil unseres geistigen Lebens und damit auch unseres Gefühlslebens jederzeit unbewusst bleibt – nur ein kleiner Teil davon dringt in unser Bewusstsein vor. Die zweite Hauptidee lautet, dass die aggressiven und sexuellen Triebe, genau wie der Hunger- und der Dursttrieb, ein inhärenter Teil der menschlichen Psyche, unseres Genoms sind. Überdies sind sie schon früh im Leben wirksam. Die dritte Hauptidee lautet, dass der psychische Normalzustand und psychische Störungen ein Kontinuum bilden und dass psychische Krankheiten oft übermäßig ausgeprägte Formen normaler geistiger Prozesse sind.
Diesen Schlüsselideen ist es zu verdanken, dass Freuds Theorie des Geistes nach allgemeiner Überzeugung das moderne Denken einen gewaltigen Schritt nach vorn gebracht hat. Trotz ihres offensichtlichen Mankos, nicht empirisch zu sein, ist sie auch nach einem Jahrhundert immer noch die vielleicht einflussreichste und kohärenteste Theorie geistiger Aktivität, die uns zur Verfügung steht.
23 Lesky, E., Die Wiener Medizinische Schule im 19. Jahrhundert , 2. Aufl., Graz/Köln 1978, S. 19.
24 Lesky, Die Wiener Medizinische Schule im 19. Jahrhundert , S. 374.
25 Gay, P., Schnitzler’s Century: The making of Middle-Class Culture 1815–1914 , New York 2002, S. 67. Siehe auch Gombrich, E. H., Reflections on the History of Art , hg. von R. Woodfield, Berkeley 1987, S. 211.
26 Wettley, A. und W. Leibbrand, Von der Psychopathia Sexualis zur Sexualwissenschaft , Stuttgart 1959.
27 Freud, S. »Selbstdarstellung«, in: Gesammelte Werke , Bd. XIV, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1963, S. 34f.
28 Wittels, F., »Freud’s Scientific Cradle«, American Journal of Psychiatry 100 (1944), S. 521f.
29 Emil du Bois Reymond zitiert nach Sulloway, F. J., Freud, Biologe der Seele: Jenseits der psychoanalytischen Legende , übers. von H.-H. Henschen, Köln-Lövenich 1982, S. 43.
30 Freud, S. »Die Frage der Laienanalyse (Nachwort)«, in: Gesammelte Werke , Bd. XIV, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1963, S. 290.
31 Freud, S. »Selbstdarstellung«, S. 36.
32 Jones, E., The Life and Work of Sigmund Freud 1919–1939: The Last Phase , New York 1981, S. 223.
Abb. 5-1.
Freuds neuronaler Schaltkreis für Verdrängung,
basierend auf seinem neuronalen Modell des Geistes.
KAPITEL 8
DIE DARSTELLUNG DER WEIBLICHEN SEXUALITÄT IN DER KUNST
W ährend Schnitzler
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