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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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und zwar nicht als Poesie, sondern als Frau. 79
    78 Kokoschka, O., Mein Leben , München 1971, S. 119.
    79 Elsen, A., »Drawing and a New Sexual Intimacy: Rodin and Schiele«, in: Egon Schiele: Art, Sexuality, and Viennese Modernism , hg. von P. Werkner, Palo Alto 1994, S. 14.

Abb. 8-1.
Gustav Klimt, Sitzende im Fauteuil (um 1913).
Bleistift und weiße Kreide.

In einem endlosen Strom an Bleistift-, Kohle- und Kreidezeichnungen, die zu den kühnsten Offenbarungen seiner Kreativität gehören, porträtierte Klimt unverhüllt die intensive sexuelle Lust, die eine Frau erlangen kann – sei es mit einem männlichen oder weiblichen Partner oder allein. So führte er in die abendländische Kunst neue Dimensionen des weiblichen Sexuallebens ein (siehe seine Zeichnung Sitzende im Fauteuil von 1913 – Abb. 8-1 – und Liegender Frauenakt nach rechts von 1912 bis 1913 – Abb. 8-2). Die Frauen in diesen Zeichnungen verlieren sich, wie Freuds Patienten, in ihrer eigenen Fantasiewelt, einer Welt, die zwischen Traum und Wirklichkeit zu wechseln scheint. In seiner offenen Darstellung der Erotik ließ sich Klimt vermutlich von Auguste Rodins zeitgleich erstellten Zeichnungen nackter masturbierender Frauen inspirieren oder auch von der Betonung der Erotik in Aubrey Beardsleys Kunst und den Vertretern des Postsymbolismus. Von Rodin lernte Klimt außerdem, beim unmittelbaren Beobachten seiner Modelle zu arbeiten. Rodin hatte eine Technik entwickelt, bei der er Konturzeichnungen von Modellen anfertigen konnte, ohne sie aus den Augen zu lassen. Die Künstler früherer Tage hatten den Blick immer wieder von den Modellen abgewandt und sie im Grunde aus dem Gedächtnis gezeichnet.

    Abb. 8-2.
Gustav Klimt, Liegender Frauenakt nach rechts (1912–1913).
Bleistift, roter und blauer Farbstift.
    Nach heutigen Maßstäben könnte man Klimts Frauenzeichnungen einfach als Darstellungen weiblicher Sexualität aus Männersicht betrachten. Immerhin waren die Objekte seiner Zeichnungen Modelle, und es ist gut möglich, dass sie ihre jeweiligen Posen auf Anweisung von ihm einnahmen oder weil sie ihm gefallen wollten. Doch auch wenn Klimt nur begrenzte Aspekte des erotischen Empfindens von Frauen einfangen konnte, waren diese Aspekte doch für die meisten Kunstbetrachter ganz neu. Zudem waren sie auch Freud und anderen Wiener Erforschern der weiblichen Sexualität großenteils entgangen. Klimts Einblicke in die Psyche der Frauen waren zweifellos klarer als Freuds, worauf die Sexualforscherin Ruth Westheimer hingewiesen hat. In ihrem Buch über Malerei und Bildhauerei, The Art of Arousal , beschreibt sie eine Zeichnung von Schiele, die dieser auf Basis einer Zeichnung von Klimt anfertigte (Abb. 8-3):
    Es wäre zwar ein Leichtes, diese Werke als für Männer pornografisch – und für Frauen erniedrigend – abzutun, doch man kann die Bilder auch so interpretieren, dass sie ein zunehmendes Bewusstsein für die sexuelle Eigenständigkeit der Frauen offenbarten. Dieses Bewusstsein führte unweigerlich, wenn auch viel zu langsam, in allen Lebensbereichen zu einer größeren Unabhängigkeit der Frau. Hätte Freud diese Werke gesehen, so hätte er uns vielleicht nicht den Mythos aufgehalst, dass Frauen nur über die vaginale Penetration zum Orgasmus gelangen können. Vielleicht hätte er auch erkannt, dass klitorale Stimulation weder regressiv noch unreif ist, sondern eine gesunde Möglichkeit für eine Frau, sich Lust zu bereiten – oder von einem anderen Menschen Lust zu empfangen. 80

    Abb. 8-3.
Egon Schiele, Liegender Akt (1918).
Kreide auf Papier.
    Im Gegensatz zu seinen Gemälden waren die meisten von Klimts 4000 erhaltenen Zeichnungen für seine private Sammlung bestimmt; viele sind unsigniert. Er schuf diese Frauenbilder, um den Künstler in sich zu befriedigen, nicht um die lüsternen Blicke anderer männlicher Betrachter darauf zu lenken. Eine wichtige Ausnahme hiervon ist jedoch die Serie von 15 Zeichnungen, die Klimt 1906 für eine Neuübersetzung der Hetärengespräche anfertigte, Diskussionen einer Gruppe gebildeter, nachdenklicher und begabter Kurtisanen über Liebe, Sex und Treue, die der assyrische Theologe Lukian von Samosata im 2. Jahrhundert verfasst hatte. Die von Klimt beigesteuerten Zeichnungen, die somit der Öffentlichkeit zugänglich wurden, ähneln sehr seinen übrigen Zeichnungen, die er in Privatbesitz behielt, obwohl mittlerweile viele davon öffentlich bekannt sind. Der Kunsthistoriker Tobias Natter, der sich mit den

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