Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
tief, und er besuchte das Atelier des Künstlers. Klimt war seinerseits von Schieles Talent beeindruckt, und die Unterstützung durch den älteren Künstler stärkte Schieles künstlerisches Selbstbewusstsein. Genau wie Klimt den jungen Kokoschka beeinflusst hatte, so beeinflusste er nun Schiele. Dieser imitierte nicht nur Klimts Malstil, sondern eiferte ihm auch äußerlich nach, indem er beim Malen einen langen, mönchskuttenartigen Kaftan trug. Eine Zeitlang nannte er sich »Silberner Klimt«, weil er zum einen Farbe mit metallischem Silber verwendete und sich zum anderen als moderne, jüngere Version des Meisters betrachtete. 118 Unter Klimts Einfluss schuf Schiele im darauffolgenden Jahr mehrere Gemälde mit zweidimensionalen Figuren auf flachem Grund (Abb. 10-3 und Abb. 10-4). Wie bei Klimts Gemälden lenkt die Flächigkeit den Blick der Betrachter auf das Innenleben der Modelle.
Schiele stellte seine neuen Werke 1909 auf der Kunstschau aus, darunter Porträts seiner Schwester Gerti (Abb. 10-3), von Anton Peschka (Abb. 10-4), Gertis zukünftigem Ehemann, und von Hans Massmann, einem Kommilitonen an der Wiener Akademie der bildenden Künste. Das Bild von Gerti ist besonders elegant. Sie sitzt mit abgewandtem Kopf da, ihr Umhang und eine Decke verhüllen den Stuhl, und alles ist mit Klimt’schen Ornamenten versehen. Die Umrisse von Peschkas Körper verschmelzen, wie Gertis, unmerklich mit dem Lehnstuhl, in dem er sitzt – ganz ähnlich wie bei Adele Bloch-Bauer auf Klimts erstem Gemälde von ihr. Diese Bilder Schieles enthalten, wenn auch sparsam, noch dekorative Details, wie etwa die flächigen Muster in Teilen von Gertis Kleid oder der fantasievoll gestaltete silberne Hintergrund des Peschka-Porträts. Kokoschka hatte den durch Klimt populär gewordenen ornamentalen Hintergrund bereits aufgegeben und durch einen schlichteren ersetzt, und nach 1909 begann Schiele ebenfalls, seine Hintergründe zu vereinfachen und sie schließlich ganz wegzulassen. Infolgedessen springen die Figuren in Schieles Gemälden gleichsam aus der Leinwand heraus, was sie mit einer Aura der Isolation umgibt.
Abb. 10-3.
Egon Schiele, Gerti Schiele (1909).
Öl auf Leinwand.
1910 TRAT SCHIELE IN EINE NEUE PHASE ein, die ihn radikal von Klimt wegführte. Er legte in dieser Zeit die Grundlagen für einen expressionistischen Stil, der zunächst von Kokoschka beeinflusst war, aber schon bald seinen eigenen, unverkennbaren Stempel trug. Schiele distanzierte sich von Klimt, indem er auf die Ornamentik verzichtete, aber auch dadurch, dass er sich selbst zum wichtigsten Objekt seiner psychischen Erkundungsreisen machte. Während Klimt nie ein Selbstporträt malte, produzierte Schiele in den Jahren 1910 und 1911 eine lange Serie davon – fast hundert Stück. In dieser Hinsicht übertraf er sogar Rembrandt und Max Beckmann, die sich beide auf das Studium der menschlichen Natur im Verlauf des Lebenszyklus spezialisiert hatten, indem sie sich ihr Leben lang selbst zum Studienobjekt machten.
Abb. 10-4.
Egon Schiele, Bildnis des Malers Anton Peschka (1909).
Öl, Silber- und Goldbronzefarbe auf Leinwand.
In seiner Suche nach dem, was unter der Oberfläche des Alltagslebens verborgen liegt, war Schiele, wie Kokoschka, ganz ein Kind der Zeit Freuds und Schnitzlers – er erforschte die Psyche und ging davon aus, zuerst die eigenen unbewussten Prozesse verstehen zu müssen, um die einer anderen Person nachvollziehen zu können. In seinen Zeichnungen und Gemälden stellt sich Schiele zwanghaft wieder und wieder zur Schau, allein oder mit einem Gegenüber, manchmal mit Arm- oder Beinstümpfen, manchmal ohne Genitalien, mit verkrampften Muskeln, gebrochenen Knochen, leprös verstümmeltem Fleisch. Er enthüllt seinen gesamten Körper, häufig nackt und meistens abgemagert, ungelenk, verzerrt und gepeinigt. Mit seinen Posen, Haltungen und ungeheuren Verrenkungen bringt er die ganze Bandbreite menschlicher Gefühle zum Ausdruck – Angst, Befürchtung, Schuld, Neugier und Erstaunen, gepaart mit Leidenschaft, Ekstase und Tragik.
Alle Selbstporträts von Schiele stellen ihn vor einem Spiegel dar, manchmal masturbierend (Abb. 10-5, 10-6, 10-7). Die Gemälde, die ihn beim Masturbieren zeigen, sind in mehrerlei Hinsicht gewagt – nicht zuletzt, weil zu jener Zeit viele Wiener glaubten, Selbstbefriedigung mache Männer schwachsinnig. Die Selbstporträts sind jedoch nicht einfach eine Zurschaustellung von Nacktheit; sie sind der Versuch, das Selbst vollkommen
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