Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
auszeichnen, sind Schieles gereifte Arbeiten düster und oft ohne lebhafte Farben. Die Körper der gemalten Personen sind entstellt, ihre Arme und Beine verzerrt und schmerzlich verdreht, als wären sie Hysterie-Patienten von Jean-Martin Charcot. Doch während Charcots Patienten ihre Haltungen unbewusst einnahmen, waren Schieles Posen der bewusste und geübte Versuch, mit der Haltung von Händen, Armen und Körper innere Gefühle auszudrücken. Oft erprobte und analysierte er verschiedene Positionen vor dem Spiegel. So offenbarte er seinen Charakter und seine Konflikte mithilfe theatralischer, nahezu hysterischer – doch in Wahrheit wohlüberlegter – Körperhaltungen.
Demzufolge ist Schieles Kunst nicht einfach manieristisch – sie ist maniriert. Freud und seine Anhänger verwendeten den Begriff »ausagieren« für den Ausdruck verbotener Impulse durch Handlungen. Schiele war der erste Künstler, der den Aufruhr, die Angst und die sexuelle Verzweiflung in seinem Innern durch Ausagieren darstellte. Ganz ähnlich wie Max Dvořák die Kunst Kokoschkas förderte, so wurde Schiele während seiner gesamten Karriere von Otto Benesch gefördert, der bei Dvořák an der Wiener Schule für Kunstgeschichte studierte und später Direktor der Albertina in Wien war, der weltweit bedeutendsten Sammlung von Zeichnungen und Drucken. Zudem unterstützte die Familie Benesch Schiele als Kunstmäzen. Otto Beneschs Vater Heinrich war ein Gönner Schieles, und 1913 malte der Künstler ein Doppelporträt der beiden – das Doppelbildnis Heinrich und Otto Benesch (Abb. 10-2).
Abb. 10-2.
Egon Schiele, Doppelbildnis Heinrich und Otto Benesch (1913).
Öl auf Leinwand.
SCHIELE KAM 1890 IN TULLN ZUR WELT, einer österreichischen Kleinstadt an der Donau nahe Wien. Sein Vater, der deutscher Abstammung war, arbeitete als Bahnbeamter und war Bahnhofsvorsteher in Tulln. Die Familie wohnte im Obergeschoss des Bahnhofsgebäudes. Die Schieles hatten sieben Kinder, von denen drei tot geboren wurden. Zu den vier überlebenden Kindern gehörten neben Egon drei Mädchen: Elvira, Melanie und Gertrude, genannt Gerti. Gerti war die Jüngste und Schieles Lieblingsschwester. Die beiden Geschwister verband eine ganz besondere Beziehung; so war Gerti sein bevorzugtes Modell für seine ersten Darstellungen jugendlicher Sexualität.
Als Schiele erst 14 Jahre alt war, starb sein Vater am Neujahrstag 1905 an Syphilis im Spätstadium. Dass Schiele die schwere Demenz und den frühen Tod seines Vaters aufgrund einer Geschlechtskrankheit zu einer Zeit miterleben musste, in der seine eigene Sexualität gerade erwachte, war wohl ein Mitauslöser der Angst und Unsicherheit, die Schieles Leben und Arbeiten bestimmen sollten. Vermutlich beruhten darauf auch seine fortwährende Verknüpfung von Sexualität mit Tod und Schuld sowie die Haltungen, in denen er seine Modelle und sich porträtierte, als stünden alle jederzeit am Rande eines Nervenzusammenbruchs.
Schiele war zwar ein schlechter Schüler, besaß jedoch ein überragendes zeichnerisches Talent. Aufgrund dessen wurde er mit 16 Jahren zur Akademie der bildenden Künste Wien zugelassen, wo er der Jüngste seiner Klasse war. Er begann seine bereits bemerkenswerten Zeichenkünste noch zu vervollkommnen, indem er die Technik des blinden Konturenzeichnens, die der Bildhauer Auguste Rodin 117 kurz zuvor entwickelt und die Klimt übernommen hatte, zunächst nachahmte und dann verfeinerte. Schiele beobachtete seine Modelle und zeichnete, ohne die Augen von ihnen abzuwenden oder den Bleistift vom Papier zu heben, ihre Gestalten mit ungeheurer Geschwindigkeit in einer ununterbrochenen Linie, die er nie korrigieren musste.
Das Ergebnis war eine ganz und gar unverwechselbare Linienführung, die zugleich nervös und präzise war – und außerdem grundverschieden von Klimts sinnlichen Jugendstil-Linien oder der akribisch korrekten Gestaltung der akademischen Wiener Tradition. Mit dieser neuen Linienführung konnte Schiele seine Gesten und Bewegungen sowie die seiner Modelle einfangen und sie statt durch Licht und Schatten durch die Konturierung zum Leben erwecken. Diese Zeichentechnik behielt Schiele für den Rest seines Lebens bei – mit Umriss und Silhouette übersetzte er vielsagende Körpersprache.
1908 besuchte Schiele die von Klimt organisierte Ausstellung bei der Kunstschau Wien. Dort sah er zum ersten Mal Klimts Gemälde und Kokoschkas frühe Lithografien aus Die träumenden Knaben . Klimts Gemälde berührten ihn
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