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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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ist ebenso bemerkenswert wie die Sprache der Hände. Seine energische Kunstfertigkeit zeigt sich im raschen Farbauftrag, den nervösen Kratzern und den zeichnerischen Unebenheiten – alles auf einer verblüffend flirrenden Oberfläche, die zwischen dramatischen Gold-, Grün- und Brauntönen oszilliert. Auch hier sind die Hände der Frau wieder bleich, die des Mannes rot.
    Schließlich stellt Kokoschka mithilfe von Händen auch die instinktiven Bedürfnisse von Kindern dar. Sein Interesse für ihr Seelenleben offenbarte sich erstmals in dem 1909 gemalten außergewöhnlichen Porträt Spielende Kinder . Abgebildet sind die fünfjährige Lotte und der achtjährige Walter, die Kinder des Buchhändlers Richard Stein. Kokoschka zeigt die beiden Kinder nicht in idealisierten Posen, die kindliche Unschuld suggerieren sollen, wie es Künstler vor ihm gemacht hätten. Vielmehr deutet er durch ihre Körpersprache, die unregelmäßige Farbgebung und den vage umrissenen Hintergrund, auf dem sie liegen, an, dass ihre Beziehung weder neutral noch unschuldig ist (Abb. 9-22).
    Die Kinder sind dargestellt, als kämpften sie gegen die Anziehung, die sie aufeinander ausüben, und mit dem Konflikt, den diese Anziehungskraft in beiden und auch zwischen ihnen auslöst. Der im Profil gezeigte Junge schaut nachdenklich auf das Mädchen, während sie mit aufgestützten Ellbogen auf dem Bauch liegt und zum Betrachter blickt. Wie in dem Gemälde der beiden Tietzes stellt Kokoschka über die Arme der Kinder eine Verbindung zwischen ihnen her. Die linke Hand des Bruders greift nach der rechten, zur Faust geballten Hand seiner Schwester.
    Für die Öffentlichkeit war dieses frühe Gemälde ein Schock. Die Andeutung, dass Kinder, ja selbst Geschwister, romantische, vielleicht sogar erotische Gefühle füreinander hegen könnten, war geradezu ketzerisch. Tatsächlich führten die Nazis Spielende Kinder als Musterbeispiel für entartete Kunst an und entfernten es 1937 aus der Dresdner Staatsgalerie. Gombrich beschreibt das Gemälde mit den folgenden Worten:
    Die Kinder sahen damals [auf Gemälden] immer hübsch und zufrieden aus. Die Erwachsenen wollten nichts von den Krisen und Qualen des Kindesalters wissen, und sie nahmen es dem Künstler übel, wenn er sie mit der Nase darauf stieß. Kokoschka konnte und wollte eben diese konventionelle Lüge nicht mitmachen. Man merkt, daß er diesen Kindern mit tiefer Einfühlung, mit wirklichem Mitempfinden gegenüberstand. Er sah ihre Unzulänglichkeit und Verträumtheit, die Dissonanzen ihrer unentwickelten Körper und das Linkische in ihren Bewegungen. … Was das Bild an herkömmlicher Korrektheit einbüßte, gewann es an Lebensnähe. 115
    KOKOSCHKA SPRENGTE DIE WIENER KUNSTSZENE wie ein Werwolf ein Damenkränzchen. Auf seiner Leinwand fing er die unbewussten Triebe aus den Tiefen der menschlichen Seele ein – seine eigenen und die seiner Modelle. Wie Freud erfasste er die Bedeutung des Eros für Kinder und Jugendliche wie auch für Erwachsene. Wie Klimt und Schnitzler widmete er sich schon früh dem eng verwobenen Wechselspiel von erotischen und aggressiven Instinkten, das die Wiener Maler der Moderne kennzeichnet.
    Nach einem Aufenthalt in Berlin und Dresden zog Kokoschka 1934 nach Prag, 1938 nach London, 1939 nach Polperro in Cornwall und 1953 in die Schweiz, wo er 1980 starb. Gombrich, der Kokoschka aus Wien kannte und ihm in England wieder begegnete, hielt ihn für den größten Porträtmaler des 20. Jahrhunderts.
    Da Kokoschkas Werke häufig in Großbritannien ausgestellt wurden, ist davon auszugehen, dass er und auch Schiele, wie wir noch sehen werden, den britischen Expressionismus sowie indirekt Freuds Enkel Lucian beeinflusst haben. Mir drängt sich dabei der Gedanke auf, dass in Lucian Freuds großartiger Karriere gewissermaßen eine poetische Gerechtigkeit aufscheint – er hat die Tradition von Rokitansky, seinem Großvater und Kokoschka fortgeführt und ist tief unter die Oberfläche vorgestoßen, um auf die dort verborgene psychische Wirklichkeit hinzudeuten. Und wirklich wählt Lucian Freud zu Beginn des 21. Jahrhunderts bei der Beschreibung seiner Arbeit ganz ähnliche Worte wie Kokoschka hundert Jahre vor ihm:
    Wenn ich an Reisen denke, denke ich an Reisen in die Tiefe … um besser zu begreifen, wo wir gerade stehen, und vertrauten Gefühlen noch tiefer auf den Grund zu gehen. Ich meine immer, etwas »mit dem Herzen zu kennen«, bietet uns Möglichkeiten, die tiefgründiger und

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