Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
zu entblößen, eine Selbstanalyse, eine gemalte Version von Freuds Traumdeutung . In einem Artikel mit dem Titel »Live Flesh«, verfasst von dem Philosophen und Kunstkritiker Arthur Danto, heißt es dazu:
Erotik und bildliche Darstellung sind Hand in Hand gegangen, seit es Kunst gibt. … Doch das ganz Besondere an Schiele war, dass er die Erotik zum bestimmenden Motiv seines beeindruckenden … Werkes gemacht hat. [Schieles Gemälde] sind gleichsam Illustrationen der von Sigmund Freud aufgestellten These …, dass die menschliche Wirklichkeit im Wesentlichen sexueller Art ist. Anders gesagt: Für Schieles Vision gibt es keine kunsthistorische Erklärung. 119
117 Kallir, J., Egon Schiele: The Complete Works , New York 1998, S. 44.
118 Comini, A., Egon Schiele’s Portraits , Berkeley 1974, S. 32.
119 Danto, A. C., »Live Flesh«, The Nation ,23. Januar 2006.
Abb. 10-5.
Egon Schiele, Selbstbildnis als Halbakt in schwarzer Jacke (1911).
Gouache, Wasserfarben und Bleistift auf Papier.
So etwas wie Schieles nackte Ganzkörperporträts hatte es in der abendländischen Kunst vorher kaum gegeben. Er verlagerte den Akt auf eine andere Ebene, indem er eine neue, autoerotische Kunst schuf, um seine unbewussten sexuellen Triebe zu enthüllen. Seine Bilder zwingen die Betrachter, die starken, in dem Künstler verborgenen erotischen und aggressiven Neigungen wahrzunehmen. Erst Jahrzehnte später, mit den britischen Künstlern Francis Bacon, Lucian Freud und Jenny Saville sowie der amerikanischen Künstlerin Alice Neel, versuchten Maler erneut, mit ihren nackten Körpern eine historische und künstlerische Botschaft zu vermitteln, so wie Schiele es getan hatte. In diesen Werken führt Schiele außerdem eine neuartige figurative Ikonografie ein, indem er die von Kokoschka verwendete Betonung der Hände und Arme auf den gesamten Körper ausdehnt. In den übergroßen nackten Selbstporträts, wie Kniender Selbstakt (Abb. 10-6) und Sitzender Männerakt (Abb. 10-7), sind jegliche Überbleibsel von Klimts elegantem Einfluss verschwunden. Möglicherweise beeinflusst von van Gogh oder Kokoschkas Ölgemälden, malte Schiele in den Porträts von 1910 oft mit kurzen, selbstbewussten Pinselstrichen, um Aggression sichtbar zu machen und die Traumwelt des Jugendstils in bedrückende, qualvolle Realität zu verwandeln – in den Schrecken des täglichen Lebens. Beim Betrachten der Bilder ist das nahende Unheil buchstäblich mit Händen zu greifen.
Abb. 10-6.
Egon Schiele, Kniender Selbstakt (1910).
Schwarze Kreide und Gouache auf Papier.
Mit der Darstellung dramatischer anatomischer Entstellungen, wie zerschundener und kranker Haut, sowie bleichen, oftmals gespenstischen Farbtönen, vermittelt Schiele äußerste Verzweiflung, perverse Sexualität oder inneren Verfall. Dieser Blick auf die menschliche Natur entspricht Freuds neuer Deutung des Menschen als einem Gebilde aus inneren Zwängen und verborgenen Geschichten. Allgemeiner gesagt, war Schiele möglicherweise der erste moderne Künstler, der die in seinem Körper wohnende Angst einfing – jene Angst, die der Menschheit in der Gegenwart zunehmend zu schaffen macht: von einem Strom äußerer und innerer sensorischer Reize psychisch überwältigt zu werden.
Abb. 10-7.
Egon Schiele, Sitzender Männerakt (Selbstdarstellung) (1910).
Öl und opake Farben auf Leinwand.
Abb. 10-8.
Egon Schiele, Selbstdarstellung mit gestreiften Ärmelschonern (1915).
Bleistift mit Deckfarbe auf Papier.
Abb. 10-9.
Egon Schiele,
Selbstbildnis, Kopf (1910). Wasserfarben, Gouache, Kohle und Bleistift auf Papier.
DIE »KÜNSTLERISCHE FORMEL«, NACH DER SCHIELE auf dem Weg zum eigenen expressionistischen Stil sein Werk gestaltete, beschreibt die Kunsthistorikerin Alessandra Comini folgendermaßen: Isolation der Figur (oder Figuren), frontale Präsentation und Angleichung der Figurenachse an die zentrale Achse der Leinwand sowie Betonung von übergroßen und missgestalteten Augen und Händen und dem ganzen Körper. Auch diese übertrieben dargestellten Merkmale schaffen in ihrer Gesamtwirkung eine verstörende Aura von Angst. Dem fügt die Kunsthistorikerin Jane Kallir hinzu: »Sowohl in Schieles Zeichnungen als auch in seinen Gemälden war die Linie die alles einende Kraft. … So vollendete sich eine Metamorphose: Indem er dekorative Wirkung durch die emotionale Wirkung ersetzte … demaskierte Schiele die finstere Welt der Sinne …« 120
In seiner Selbstdarstellung mit gestreiften Ärmelschonern von
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