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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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1915 stellt sich Schiele als gesellschaftlicher Außenseiter dar, als Clown oder Narr (Abb. 10-8). Die Ärmelschoner mit ihren senkrechten Streifen erinnern an das Kostüm eines Hofnarren. Das Haar des Künstlers ist hellorange, und aus seinen weit aufgerissenen Augen spricht ein Anflug von Wahnsinn. Der Kopf auf dem dünnen Hals kippt in einem bedenklichen Winkel zur Seite. In einem weiteren Selbstporträt (Abb. 10-9) wird der angsterfüllte Ausdruck noch verstärkt, weil die Konturen des Kopfes von einer dicken weißen Gouache-Aureole umgeben sind, die den Kopf isoliert und vom Hintergrund abhebt, wodurch er groß und zugleich Aufmerksamkeit heischend erscheint. Zudem gestaltet Schiele den Bereich über seinen Augen übermäßig groß – die Stirn ist riesig und tief gefurcht. Dieses Porträt sieht so aus, als hätte Schiele Klimts frühere Abbildung des enthaupteten Holofernes aufgreifen wollen, jedoch mit sich selbst als Opfer: Der Kopf schwebt am oberen Rand des Blattes und weist so nachdrücklich darauf hin, dass der Körper fehlt.
    Sogar Schieles »sprechende Hände« unterscheiden sich deutlich von denen Kokoschkas (Abb. 10-6, 10-8). Sie sind übertrieben, theatralisch, verkrampft, die ausgestreckten Finger ähneln abgeschnittenen Zweigen oder den Händen eines Hysterie-Patienten. Comini beschreibt, wie Schiele mit geheimen Gesten experimentierte, die er in seinen Gemälden aufgriff. Zum Beispiel legte er einen extrem verlängerten Finger seiner rechten Hand unter das rechte Auge und zog das Unterlid herunter, sodass das Weiße im Auge sichtbar wurde. Auch seinen Kopf bildete er auf sehr unterschiedliche Weise ab. Zu diesen Selbstporträts stellt Comini die Frage: »Warum waren Schieles Werke zu jener Zeit von einer solch zwingenden Intensität, und wie entwickelte er ein neues künstlerisches Vokabular, das diese konzentrierte Selbstbetrachtung verlangte?« Ihre Antwort lautet:
    Dafür gibt es mehrere äußere und innere Erklärungen. Eine ist die im Wien der Jahrhundertwende vorherrschende Konzentration auf das Selbst. … Da Schiele in derselben Stadt lebte, sich im selben Umfeld bewegte und für dieselben Reize empfänglich war wie … Sigmund Freud, hatte er auch Anteil an jenem allgemeinen Phänomen der intensiven Seelenschau. Schieles Selbstporträts und auch die von … Kokoschka behandeln intuitiv diejenigen Aspekte der Sexualität und Persönlichkeit, die Freud wissenschaftlich identifiziert und analysiert hatte. 121

    Abb. 10-10.
Egon Schiele, Selbstdarstellung, grimassierend (1910).
Schwarze Kreide, Gouache auf Papier.

    Abb. 10-11.
Franz Xaver Messerschmidt,
Der Gähner (nach 1770).
Blei.
    Stilistisch scheinen mehrere Einflüsse auf die Selbstporträts eingewirkt zu haben, die allesamt auf der Biologie beruhten. Die erste einflussreiche Quelle waren die Bilder von Charcots Hysterie-Patienten, deren Hände und Arme eine Vielzahl abnormer, verzerrter Positionen einnahmen. Diese Bilder waren so populär, dass das Hôpital de la Salpêtrière von 1888 bis 1918 regelmäßig eine Zeitschrift herausbrachte, in der es weniger um Hysterie ging als um neurologische Krankheiten wie Makrodaktylie – den Riesenwuchs einzelner Finger –, infantilen Riesenwuchs und verschiedene Muskelerkrankungen, die zu verdrehten Körperformen führen. Zudem muss Schiele – möglicherweise mit nachhaltiger Wirkung – im Wiener Museum des Unteren Belvedere die berühmte Serie der Charakterköpfe gesehen haben, die in den 1780er-Jahren von Franz Xaver Messerschmidt geschaffen wurden und hochdramatische geistige Zustände darstellen (siehe Kapitel 11) (vgl. Abb. 10-10 und Abb. 10-11). Überdies wurde Schiele vermutlich auch durch seinen Freund Erwin Osen beeinflusst, der die Gesichtsausdrücke der gestörten Patienten im Steinhof, einem psychiatrischen Krankenhaus in einem Wiener Außenbezirk, untersuchte und sie dann in seinen Gemälden aufgriff. Der Arzt Erwin von Graff, der in pathologischer Anatomie eine Ausbildung in der Tradition Rokitanskys erhalten hatte und seine Sichtweise an Schiele weitergab, erlaubte dem Künstler, die Patienten in seiner Klinik zu zeichnen. Möglicherweise haben diese Patienten in Schiele jenen Eindruck des kranken und missgestalteten menschlichen Körpers hinterlassen, der einem so häufig in seinen Gemälden begegnet.

    Abb. 10-12.
Egon Schiele, Kauerndes Mädchen mit gesenktem Kopf (1918).
Schwarze Kreide, Wasserfarben und Deckfarbe auf Papier.
    Den möglicherweise wichtigsten Einfluss auf

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