Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Schiele hatte jedoch sein eigener kritischer Seelenzustand. Mit anzusehen, wie die Psychose immer stärker von seinem Vater Besitz ergriff, hatte ihn sehr wahrscheinlich mit Entsetzen erfüllt und in ihm das Schreckgespenst wachgerufen, er könne eines Tages vielleicht auch dem Wahnsinn verfallen.
120 Kallir, Egon Schiele , S. 65–68 .
121 Comini, Egon Schiele’s Portraits , S. 50f .
Abb. 10-13.
Egon Schiele, Liebesakt (1915).
Bleistift und Gouache auf Papier.
IM JAHRE 1911 BEGEGNETE DEM 21-jährigen Schiele Valerie Neuzil, ein rothaariges Mädchen von 17 Jahren, die sich selbst Wally nannte. Als früheres Modell und vielleicht auch Geliebte Klimts wurde sie zu Schieles Modell und seiner Geliebten. Dank Wallys Einfluss entwickelte Schiele ein sehr viel besseres Gespür für die Skala der weiblichen Erotik, und das wiederum veranlasste ihn, sein Augenmerk auf die Sexualität Heranwachsender zu richten. Schiele war fasziniert von jugendlicher Sexualität, und er ließ die jungen Mädchen, die ihm Modell standen, sexuell eindeutige Posen einnehmen. In dieser Hinsicht betrat Schieles Expressionismus ebenfalls Neuland. Auch wenn die Darstellung der Sexualität jugendlicher Frauen, die Gauguin, Munch und Kokoschka in die abendländische Kunst eingeführt hatten, von den deutschen Expressionisten allgemein übernommen wurde, offenbarten sie niemals – auch Kokoschka nicht – solch unverblümte, verstörende Erkundungen pubertärer Sexualität wie Schiele.
Im Gegensatz zu den Bildern früherer Künstler richten einige Abbildungen Schieles den Fokus explizit auf Genitalien und sexuelle Handlungen. So vermittelt er in Kauerndes Mädchen mit gesenktem Kopf von 1918 (Abb. 10-12) die Gefühle eines Mädchens, indem er sie mit tief zur Seite geneigtem Kopf und einem Ausdruck wehmütiger Melancholie darstellt. Lange, lose Haarsträhnen umrahmen ihr Gesicht, als suche sie nach Schutz und Sicherheit. In Gemälden wie Liebesakt von 1915 (Abb. 10-13) verschmelzen Sexualität, Erotik, Weltschmerz, Erschöpfung und Furcht zum Ausdruck der Untrennbarkeit von Eros und Angst. Die Nackten in Schieles Gemälden, sind – vielleicht als Abbild der eigenen Gefühle des Künstlers – oft so asketisch, ernst und angsterfüllt, dass sie fast wie expressionistische Karikaturen der eleganten, entspannten, genießerischen Frauen wirken, die Klimt malte.
Schieles erstes Modell war seine Schwester Gerti, die sich anfangs unbehaglich fühlte, wenn sie nackt posieren sollte. Er wählte kindliche oder jugendliche Modelle, weil ihm das Geld fehlte, um erwachsene Modelle zu bezahlen, und weil es ihm vielleicht, da er selber noch jung war, angenehmer war, mit jungen Menschen zu arbeiten. Einige Modelle in Schieles frühen Arbeiten waren nur ein paar Jahre jünger als er. Deren latente Sexualität entsprach vermutlich seinen eigenen aufkeimenden Gefühlen und repräsentierte seine Versuche, Antworten auf die immer wiederkehrenden Fragen Heranwachsender zur Sexualität zu finden.
Aufgrund von Verdächtigungen, dass Schiele Minderjährige entführe und sexuell missbrauche, veranlasste die Polizei 1912 eine Razzia in seinem Studio in Neulengbach, einer Kleinstadt rund 30 Kilometer von Wien. Man geht gemeinhin nicht davon aus, dass Schiele jemals Sex mit einem dieser jungen Mädchen hatte, weil Wally immer im Studio anwesend war, wenn die Mädchen Modell standen. Unbestritten ist aber, dass Schiele die konventionell erzogenen Kinder aus Mittelschichtfamilien wiederholt bat, für ihn nackt zu posieren, ohne das Einverständnis der Eltern einzuholen. Eines der Mädchen verliebte sich offenbar in ihn, kam eines Nachts in sein Studio und weigerte sich, wieder zu gehen. Wally half dabei, das Mädchen zu ihrem Vater zurückzubringen, der Schiele daraufhin wegen Kindesentführung und -missbrauchs anzeigte. Schiele wurde inhaftiert, des unmoralischen Verhaltens auf Verdacht für schuldig befunden und aufgrund des einen Anklagepunktes, Zeichnungen angefertigt zu haben, die der Richter als pornografisch erachtete, zu 24 Tagen Gefängnis verurteilt. Darüber hinaus wurde eine Geldstrafe verhängt, und Schiele musste im Gerichtssaal eine Zeichnung verbrennen, die aus seinem Studio konfisziert worden war.
Nach Wien zurückgekehrt, lernte Schiele zwei Jahre nach seiner ersten Begegnung mit Wally Adele und Edith Harms kennen, zwei wohlerzogene Schwestern etwa in seinem Alter und aus ähnlichen gesellschaftlichen Kreisen wie er, die in ein Haus gegenüber seiner
Weitere Kostenlose Bücher