Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Kardinal und Nonne (Liebkosung) (Abb. 10-17), eine Parodie auf Klimts berühmtes Gemälde Der Kuss (Abb. 10-18). Dass Schiele das Tabu brach, einen Priester zu malen, der verbotenerweise eine Nonne küsste, erhielt eine noch schärfere ironische Note durch die Tatsache, dass Wally als Nonne posierte. Dennoch bewunderte Schiele Klimt außerordentlich und er war, wie Jane Kallir ausgeführt hat, derjenige Künstler, der stilistisch am stärksten durch Klimt beeinflusst wurde. Das zeigen nicht nur Schieles frühe Gemälde (Abb. 10-3 und 10-4), sondern auch seine späten Zeichnungen (Abb. 8-3), in denen er Frauen skizzierte, die sich ihrer Sexualität auf Klimt’sche Weise hingaben.
Abb. 10-16.
Egon Schiele, Die Eremiten (Egon Schiele und Gustav Klimt) (1912).
Öl auf Leinwand.
Klimt starb am 6. Februar 1918. Als Schiele von seinem Tod erfuhr, ging er zum Leichenschauhaus, wo er Klimts Gesicht zeichnete, um ihm so die letzte Ehre zu erweisen. In den darauffolgenden neun Monaten trat Schiele mit seiner Arbeit zum ersten Mal ganz aus Klimts Schatten. Nun, da Klimt tot war und Kokoschka in Berlin lebte, wurde Schiele zu Wiens bedeutendstem Maler. Seine Werke waren sehr gefragt und seine Einkünfte stiegen rapide.
Am 31. Oktober 1918 starb Schiele plötzlich an einer Lungenentzündung – nur drei Tage, nachdem seine schwangere Frau der gleichen Krankheit erlegen war. Beide hatten sich die Lungenentzündung als Folge der Spanischen Grippe zugezogen, die in ganz Europa wütete.
Abb. 10-17.
Egon Schiele, Kardinal und Nonne (Die Liebkosung) (1912).
Öl auf Leinwand.
SCHIELES TOD MARKIERTE DAS ENDE der expressionistischen Ära in Wien, die den ersten Schritt zu einem möglichen Dialog zwischen Wissenschaft und Kunst erlebt hatte. Die fünf großen Männer, die »Wien 1900« hervorbrachte, verdankten ihre immensen Leistungen in der Psychoanalyse, Literatur und Kunst – direkt oder indirekt – dem wissenschaftlichen Einfluss von Rokitanskys Sichtweise, dass die äußere Erscheinung trügerisch ist und man tief unter die Oberfläche vordringen muss, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Dennoch war keiner dieser fünf auch den nächsten Schritt gegangen. Obwohl die Kunst Freud nachhaltig beeinflusste und er der Überzeugung war, sie spreche das Unterbewusstsein ihrer Betrachter an, erkannte er diese Verbindung nicht in jener Kunst, die sich direkt vor seinen Augen entfaltete. Somit gelang es in Wien um 1900 nicht, die Biologie oder Freuds dynamische Psychologie auf sinnvolle Weise mit der Kunst zu verknüpfen. Überdies war im Wien der Jahrhundertwende weder eine Kognitionspsychologie entstanden, die sich mit den Reaktionen der Betrachter auf Kunst auseinandersetzte, noch hatte man die biologischen Grundlagen unbewusster Gefühle und der Reaktionen auf Gefühle in der Kunst verstanden. Doch schon bald sollte man solche psychologischen und biologischen Erkenntnisse erlangen – diese Entwicklung setzte in Wien im Jahre 1930 ein und dauert bis zum heutigen Tage fort.
Abb. 10-18.
Gustav Klimt, Der Kuss (1907–1908).
Öl auf Leinwand.
TEIL ZWEI
Eine kognitive Psychologie
der visuellen Wahrnehmung und der
emotionalen Reaktion auf Kunst
KAPITEL 11
DIE ENTDECKUNG DER RELEVANZ DES BETRACHTERS
D ie Übereinstimmung in der psychologischen und künstlerischen Behandlung von verschiedenen Aspekten unbewusster Instinkte, die Sigmund Freud, Arthur Schnitzler, Gustav Klimt, Oskar Kokoschka und Egon Schiele offenbarten, wirft mehrere Fragen auf: Erkannten diese Pioniere, dass sie sich auf parallelen Gleisen bewegten? Wenn ja, unternahmen Schnitzler und Freud irgendeinen Versuch, einen Dialog in Gang zu setzen? Oder Klimt, Kokoschka und Schiele? Gab es irgendwelche Bemühungen, die psychologischen und künstlerischen Ansätze zur Erforschung unbewusster Triebe zu verknüpfen?
Tatsächlich kommunizierten die Maler miteinander, und für Freud und Schnitzler gilt das Gleiche. Klimt, der Vater der österreichischen Moderne, unterstützte Kokoschka und Schiele nach Kräften und beeinflusste sie. Die beiden jüngeren Künstler bewunderten Klimt, auch wenn sie sich später von seinem Einfluss befreiten und ihren eigenen, unverwechselbaren expressionistischen Stil entwickelten. Schiele sah in Klimt den Begründer der Schule der Moderne, die ihn geformt hatte, und obwohl er es nicht zugab, wurde er auch von den frühen Werken Kokoschkas, des ersten wahren Wiener Expressionisten, beeinflusst.
Freud und Schnitzler – beides Ärzte und
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