Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Wohnung gezogen waren. Schiele bat Wally, ein Treffen zwischen ihm und den Schwestern zu arrangieren. Eine Zeitlang war er an beiden interessiert, aber 1915 verliebte er sich schließlich in Edith, die jüngere Schwester, und sie planten zu heiraten.
Als Edith darauf bestand, dass er im Fall einer Heirat mit Wally brechen müsse, malte Schiele das eindringliche Doppelporträt Tod und Mädchen (Abb. 10-14) als Abschiedsgruß an Wally. In dem Gemälde – Ansicht von oben – liegen Wally und Schiele auf einer Matratze, die mit einem weißen Laken bedeckt ist. Schiele ist leicht zu erkennen; er trägt ein Mönchsgewand und tröstet Wally, die ihn, mit dem Gesicht an seiner Brust, umarmt. Sie trägt ein Unterkleid aus Spitze, in dem Schiele sie früher bereits gemalt hat. Das zerknitterte weiße Laken, das teilweise auf dem Boden liegt, lässt vermuten, dass sie gerade miteinander geschlafen haben. Obwohl sich die beiden noch umarmen, starren sie aneinander vorbei ins Leere, als wäre Schiele mit seinen Gedanken bereits woanders. Schiele, der hier als Botschafter des Todes erscheint, sieht tief erschüttert aus – ihm steht der Verlust der Frau bevor, die ihm in einer schwierigen Phase seines Lebens zur Seite stand und mit der ihn eine enge und wichtige Beziehung verbunden hat. Wahrscheinlich hat er diese Beziehung nicht nur auf Ediths Forderung hin beendet, sondern auch aus eigenem Antrieb – Wally gehörte einer niedrigeren sozialen Schicht an und pflegte einen recht leichtfertigen Lebenswandel. Dies waren Eigenschaften, die Schiele, der nun konventionellere Werte anstrebte, mit der Heirat Ediths hinter sich lassen wollte.
Abb. 10-14.
Egon Schiele, Tod und Mädchen (1915).
Öl auf Leinwand.
Man hat Tod und Mädchen oft mit Kokoschkas Die Windsbraut verglichen, worin dieser die wilde Beziehung zu Alma Mahler darstellt, doch in Wahrheit sind die beiden Gemälde grundverschieden. In beiden Werken befinden sich die Männer in ängstlichem Aufruhr, doch in Die Windsbraut schläft Alma Mahler friedlich, während Wally in Tod und Mädchen ein Gefühl von Isolation und Verzweiflung durchlebt, das mit Schieles vergleichbar ist. Sie empfindet das Verlassensein, er mangelnde Erfüllung. In Schieles Welt ist niemand jemals sicher.
Abb. 10-15.
Egon Schiele, Tod und Mann (Selbstseher II) (1911).
Öl auf Leinwand.
SCHON FRÜH IN SEINEM LEBEN KÄMPFTE SCHIELE mit seinem Selbstverständnis als Mann. Diesen Konflikt offenbart er in mehreren Selbstporträts, die ihn mit Doppelgänger zeigen. Der Doppelgänger, ein beliebtes Motiv in der Literatur der deutschen Romantik, ist das gespenstische Alter Ego einer Person, das sich genauso wie die Person verhält. Der Doppelgänger kann zwar die Gestalt eines Beschützers oder imaginären Gefährten annehmen, aber häufig ist er ein Vorbote des Todes. Im Volksglauben ist der Doppelgänger ein Phantom des Selbst – er wirft keinen Schatten und hat kein Spiegelbild. In seinen Doppel-Selbstporträts verwendet Schiele den Doppelgänger in beiden Bedeutungen. In Tod und Mann (Selbstseher II ) von 1911 (Abb. 10-15) kombiniert Schiele sein eigenes Gesicht oder das seines Vaters mit der dahinterstehenden skelettartigen Gestalt des Todes. Wie so viele von Schieles Werken ist das Bild furchteinflößend und faszinierend zugleich.
Die Beschäftigung mit dem Vater greift der Künstler ein Jahr später in einem weiteren Doppelporträt, Die Eremiten (Abb. 10-16), wieder auf. Dieses Porträt zeigt ihn und Klimt und entstand möglicherweise unter dem Eindruck des Bildes von Kokoschka und Klimt in Die träumenden Knaben , von dem Schiele eine Reproduktion besaß. In Kokoschkas Farblithografie lehnt sich der jüngere Künstler gegen Klimt, seinen Mentor und sein Vorbild. In Schieles Porträt jedoch stützt sich Klimt – Schieles künstlerischer Vater – auf ihn. Im Jahre 1912 befand sich Klimt noch auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Er war die bestimmende Kraft in Wiens Künstlerwelt, doch in dem Gemälde scheint er sich selbst festzuklammern – nicht nur an Schiele, sondern auch am Leben selbst. Seine weit offenen, leeren Augen suggerieren, dass er blind ist. Es ist gut möglich, dass Schieles Doppelporträt den unbewussten, ödipalen Wunsch des Künstlers widerspiegelt, seinen imaginären Rivalen Klimt zu eliminieren und seine Nachfolge als Wiens größter Künstler anzutreten.
Schiele hatte jedoch auch Humor. Das vielleicht bekannteste Beispiel für seine satirische Ader ist das Gemälde
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