Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Wissenschaftler, die in der Rokitansky’schen Atmosphäre der Wiener Medizinischen Schule ausgebildet wurden – betrachteten einander als intellektuelle Doppelgänger. Beide setzten sich auf jeweils unterschiedliche Weise mit denselben geistigen Themen auseinander – Freud als Psychologe und Schnitzler als Schriftsteller –, und jeder las und schätzte die Werke des anderen.
Die Beziehung von Freud und Schnitzler zu den Künstlern und umgekehrt war bestenfalls einseitig. Weder Freud noch Schnitzler würdigten das Werk der Maler und keiner von beiden erkannte, dass sich die Künstler ebenfalls daran gemacht hatten, das Unbewusste zu erforschen. Dagegen ist zweifelsfrei davon auszugehen, dass die Künstler Freuds und Schnitzlers Arbeiten kannten und davon beeinflusst wurden. Schnitzler war, neben Hugo von Hofmannsthal, der bedeutendste österreichische Schriftsteller jener Zeit, und mit der Publikation von Die Traumdeutung wurde Freud zu einer berühmten Persönlichkeit, die die Wiener Kultur entscheidend prägte. Kokoschkas Ideen wiesen unübersehbare Ähnlichkeiten mit denen von Freud auf, obwohl er darauf beharrte, sie eigenständig entwickelt zu haben. Kokoschka war sehr belesen und kenntnisreich; außerdem waren seine frühen Förderer Karl Kraus und Adolf Loos Intellektuelle, die mit den Werken Schnitzlers und Freuds gut vertraut waren. Und Klimt hatte ein profundes Interesse an Biologie und Medizin.
VON DEN FÜNFEN VERSUCHTE NUR FREUD, Kunst und Wissenschaft miteinander zu verknüpfen. Er schrieb längere Aufsätze über die Kreativität der zwei von ihm bewunderten Renaissancekünstler Leonardo da Vinci und Michelangelo, ging dabei aber nicht auf die Psychologie der Wahrnehmung ein, also auf das, was die Betrachter in ein Kunstwerk einbringen. Stattdessen befasste er sich mit der Psychologie des Künstlers.
Im berühmteren dieser Aufsätze, »Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci«, den Freud 1910 verfasste, analysierte er Leonardos Leben und die Entwicklung seines Werkes, wobei er sich großenteils auf die Notizbücher des Künstlers und insbesondere auf eine Erinnerung aus dessen Kinderzeit stützte. Leonardo wurde unehelich geboren und verbrachte seine frühe Kindheit mit der ledigen Mutter. Laut Freud verhielt sich diese so, wie es unbefriedigte Mütter ohne Ehemann typischerweise tun – sie küsste ihren Sohn leidenschaftlich, vergötterte ihn und forderte eine ungewöhnlich intime Beziehung von ihm ein. Dies führte dazu, dass sich Leonardo seiner Mutter dauerhaft eng verbunden fühlte und seine sexuelle Reifung früher als üblich erfolgte, was wiederum, so Freud, Leonardos homosexuelle Neigungen erklärte. Freud entdeckte diese Neigungen sowohl in Leonardos Kindheitserinnerungen, wo er von sinnlichen Erfahrungen im Zusammenhang mit seinem Mund berichtete, als auch später in Leonardos intensiven emotionalen Beziehungen zu männlichen Schülern.
Als Freud die Entwicklung von Leonardos Werken analysierte, befasste er sich eingehend mit dem Phänomen, dass das Interesse des Künstlers in jungen Jahren mehr der Malerei galt und später mehr der Wissenschaft. Freud interpretierte diese Verlagerung als Flucht vor den tiefen menschlichen Gefühlen, mit denen sich der Künstler auseinandersetzen muss, und Hinwendung zu der Nüchternheit, die den Wissenschaftler kennzeichnet. Diese Entwicklung schrieb er Leonardos psychischem Konflikt zu, das heißt, der inneren Ablehnung seiner homoerotischen Veranlagung.
Freud behandelt Leonardos frühes künstlerisches Schaffen und dessen spätere wissenschaftliche Arbeit wie klinische Symptome. Er analysiert die wenigen ihm verfügbaren Einzelheiten der Biografie Leonardos so, als könnten sie ihm Einblick in die Seele des Künstlers geben. Aber da er selbstverständlich nicht auf Leonardos eigene Ausführungen – die freie Assoziation während des psychoanalytischen Gesprächs – zurückgreifen konnte, hatte er keine Möglichkeit, die eigene Interpretation eines Leonardo’schen Traumes oder sonstige persönliche Schlussfolgerungen zu prüfen oder zu bewerten. Wie der Kunsthistoriker Meyer Schapiro festgestellt hat, wusste Freud zudem keinesfalls genug über Kunstgeschichte und die Forschung über Leonardo, um Fehlinterpretationen zu vermeiden und somit einen ernst zu nehmenden kunsthistorischen Aufsatz über den Künstler zu schreiben. Und schließlich stellte Freud auch nicht die Frage, die sich im Dialog zwischen Wissenschaft und Kunst als Kernpunkt
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