Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
förderten, die in Wien um 1900 entstand.
Bei der Analyse der holländischen Gruppenbilder aus dem 17. Jahrhundert, wie Bankett der Offiziere der St. Georg-Schützengilde in Haarlem von Frans Hals oder Schützenstück von Dirck Jacobsz (Abb. 8-14 und Abb. 11-2), entdeckte Riegl einen neuen psychologischen Aspekt der Kunst: Ohne die wahrnehmende und emotionale Beteiligung der Betrachter ist Kunst unvollkommen . Im Zusammenwirken von Betrachtern und Künstlern vollzieht sich nicht nur die Wandlung eines zweidimensionalen Abbildes auf einer Leinwand zur dreidimensionalen Abbildung der sichtbaren Welt – die Betrachter interpretieren auch ganz individuell, was sie auf der Leinwand sehen, und weisen dem Bild damit Bedeutungen zu. Riegl nannte dieses Phänomen die »Hineinziehung des betrachtenden Subjekts« (Gombrich setzte sich damit später noch ausführlicher auseinander und bezeichnete es als den »Anteil des Beschauers«).
Abb. 11-2.
Dirck Jacobsz, Schützenstück (1529).
Öl auf Leinwand.
Diese Vorstellung – dass Kunst ohne direkte Beteiligung des Betrachters keine Kunst ist – wurde von der nachfolgenden Generation der Wiener Kunsthistoriker, vertreten durch Ernst Kris und Ernst Gombrich, weiter ausgearbeitet. Ausgehend von Ideen Riegls und zeitgenössischer psychologischer Schulen entwickelten sie einen neuen Ansatz, um die Geheimnisse der visuellen Wahrnehmung und der emotionalen Reaktion zu ergründen, und übernahmen diesen Ansatz für die Kunstkritik. Dieser radikale Umbruch wurde viele Jahre später von dem Gestaltpsychologen Rudolf Arnheim folgendermaßen beschrieben:
Mit der Hinwendung zur Psychologie begann die Kunsttheorie, von dem Unterschied zwischen der physischen Welt und ihrer äußeren Erscheinung Kenntnis zu nehmen und anschließend auch von dem Unterschied zwischen dem, was wir in der Natur sehen und was wir in einem künstlerischen Medium festhalten. … Was gesehen wird, hängt von demjenigen ab, der sieht, sowie von demjenigen, der ihn sehen gelehrt hat. 124
KRIS BRACHTE EINE GANZ EIGENE SICHTWEISE in die Kunstkritik ein. Im Jahre 1922 promovierte er in Kunstgeschichte an der Universität Wien, wo er bei Dvořák und Julius Schlosser arbeitete, die beide bei Wickhoff studiert hatten. Über seine spätere Frau Marianne Rie, die Tochter des mit Freud befreundeten Oscar Rie, entdeckte Kris sein Interesse an der Psychoanalyse. 1925 begann er eine Ausbildung zum Psychoanalytiker und eröffnete drei Jahre später eine psychoanalytische Praxis. Als er Freud 1924 begegnete, bat dieser Kris in dessen Eigenschaft als Kunsthistoriker, Teile der Antiquitätensammlung zu begutachten, die er seit 1896 zusammengetragen hatte. Bald erkannte Freud, dass Kris als Kenner der Kunstgeschichte wie auch der Psychoanalyse das perfekte Bindeglied zwischen den beiden Disziplinen war. Er drängte Kris, als Kurator und zugleich als Psychoanalytiker tätig zu bleiben, was dieser auch tat, bis er sich im September 1938 gezwungen sah, aus Wien zu fliehen (Abb. 11-3).
Abb. 11-3.
Ernst Kris (1900–1957).
Das Foto wurde Mitte der 1930er-Jahre aufgenommen;
zu jener Zeit arbeitete Kris an seiner Studie zur Übertreibung und
zur Wahrnehmung der in Messerschmidts Bronze-Charakterköpfen
ausgedrückten Emotionen sowie allgemein über den Expressionismus.
Mit der Verknüpfung der Perspektiven von Kunstgeschichte und
Psychoanalyse begründete er eine neue Art der Kunstbetrachtung.
Im Jahre 1932 schlug Freud Kris vor, an der Zeitschrift Imago mitzuarbeiten, die Freud gegründet hatte, um mithilfe von psychoanalytischen Erkenntnissen kulturelle Brücken zu schlagen – etwa zwischen Kunst und Psychologie. Mit Kris verlagerte sich der Fokus der psychoanalytischen Kunstkritik von Freuds Psychobiografie der Künstler auf eine empirische Untersuchung der Wahrnehmungsprozesse von Künstlern und Betrachtern. Nachdem Kris eine Studie über Mehrdeutigkeit in der visuellen Wahrnehmung durchgeführt hatte, widmete er sich eingehender Riegls Erkenntnis, dass erst der Betrachter ein Kunstwerk vollendet.
Kris behauptete, wenn Künstler eine eindrucksvolle Darstellung ihrer Lebenserfahrungen und Konflikte erzeugten, sei diese Abbildung von Natur aus mehrdeutig. Die Mehrdeutigkeit des Bildes löse sowohl einen bewussten als auch einen unbewussten Prozess des Wiedererkennens in den Betrachtern aus, die emotional und empathisch auf die in dem Bild erkannten eigenen Lebenserfahrungen und -kämpfe reagierten. Genau wie der Künstler ein
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