Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
erweisen sollte: Worin genau besteht die Reaktion des Betrachters auf Kunst?
Insgesamt gesehen sind Freuds Schriften über Kunst zwar interessant und informativ, aber längst nicht seine besten Werke. Trotz ihrer Mängel erwiesen sich die Aufsätze als historisch bedeutsam, weil sie den ersten Versuch darstellten, einen Dialog zwischen psychoanalytischer Psychologie und Kunst ins Leben zu rufen.
Unter dem Einfluss von Freuds Werk gelang drei Mitgliedern der Wiener Schule der Kunstgeschichte der für diesen Dialog erforderliche konzeptuelle Schritt – Alois Riegl, dem wir bereits in Kapitel 8 begegnet sind, sowie seinen zwei jüngeren Schülern Ernst Kris und Ernst Gombrich. In Zusammenarbeit und auch unabhängig voneinander richteten diese drei den Fokus auf den Anteil der Betrachter eines Kunstwerks und schufen damit die Voraussetzungen für eine holistische, kognitive Psychologie der Kunst, die wesentlich tiefgreifender und stringenter als der von Freud angedachte Dialog war und später als Grundlage für die Entstehung einer Biologie der Ästhetik diente.
RIEGL WAR DER ERSTE KUNSTHISTORIKER, der wissenschaftliches Denken systematisch auf die Kunstkritik anwandte (Abb. 11-1). Er und seine Kollegen an der Wiener Schule der Kunstgeschichte, insbesondere Franz Wickhoff, erlangten Ende des 19. Jahrhunderts internationale Anerkennung, weil sie versuchten, Kunstgeschichte als wissenschaftliche Disziplin zu etablieren, indem sie ihr ein psychologisches und soziologisches Fundament verliehen.
Darüber hinaus erlaubte Riegls strikt analytischer Ansatz, Kunstwerke aus verschiedenen geschichtlichen Epochen zu vergleichen und somit allgemeine Prinzipien zu formulieren. Dabei riefen er und Wickhoff zuvor missachtete Übergangsepochen der Kunstgeschichte wieder ins Bewusstsein und dokumentierten ihr Gewicht. Beispielsweise hatten frühere Kunsthistoriker die späte römische und frühe christliche Kunst im Vergleich zur griechischen als dekadent abgetan. In Wickhoffs Augen war die Kunst dieser Epochen jedoch höchst schöpferisch. Er gestand der griechischen Kunst zwar großen Einfluss auf die römische zu, wies aber auch darauf hin, dass römische Künstler infolge neuer kultureller Werte im zweiten und dritten Jahrhundert einen illusionistischen Stil entwickelt hätten, der erst im 17. Jahrhundert wieder aufgegriffen wurde. Wickhoff sorgte außerdem für eine neue Wertschätzung der frühen christlichen Kunst, indem er ihre ganz besonderen Erzählstrategien darlegte.
Abb. 11-1.
Alois Riegl (1858–1905).
Riegl war Kunsthistoriker und Dozent
an der Wiener Schule der Kunstgeschichte.
Indem er Elemente der Psychologie und
Soziologie in die Kunstgeschichte einbrachte,
trug er dazu bei, dass sie sich zu einer eigen-
ständigen akademischen Disziplin entwickelte.
Laut Riegl, Wickhoff und der Wiener Schule zählt in der Kunstgeschichte und auch in der Politikgeschichte, dass »alle Zeitalter unmittelbar zu Gott« 122 seien, wie Carl Schorske es paraphrasiert. Mit anderen Worten: Vor Gottes Augen sind alle gleich. Um zu würdigen, was jede Kulturepoche unverwechselbar mache, so Riegl, müssten wir die Absichten und Ziele der Kunst jeder einzelnen Epoche verstehen. Dann würden wir nicht einfach nur Fortschritte oder Rückschritte bemerken, sondern könnten eine endlose Folge von Transformationen erkennen, die nicht durch einen simplen, im Vorhinein festgelegten ästhetischen Standard beschränkt seien. Auf diese Weise gelang es Wickhoff, Riegl und ihren Kollegen nach und nach, den Fokus der Kunstgeschichte vom Inhalt und der Bedeutung ganz bestimmter Gemälde auf die generellen Strukturen von Kunstwerken sowie die historischen und ästhetischen Prinzipien zu lenken, auf denen die Entwicklung künstlerischer Stilrichtungen beruht.
Im Jahre 1936 hob der amerikanische Kunsthistoriker Meyer Schapiro diese Bemühungen der Wiener Schule hervor; er würdigte »ihre fortwährende Suche nach neuen formalen Aspekten der Kunst und ihre Bereitschaft, die Erkenntnisse der zeitgenössischen wissenschaftlichen Philosophie und Psychologie [in die Kunstgeschichte] einzubeziehen. Es ist leider offenkundig, dass nur allzu wenige kunsthistorische Schriften aus den USA die innovative Arbeit unserer Psychologen, Philosophen und Ethnologen berücksichtigen.« 123 Aus dieser Sicht können wir nachvollziehen, warum Riegl und seine Kollegen an der Wiener Schule, darunter die jüngeren Mitarbeiter Max Dvořák und Otto Benesch, die neue Kunst
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