Das zerbrochene Fenster: Thriller (German Edition)
hundertprozentig sicher?«, fragte Nicky.
»Hundertprozentig.« Egal, wie schlecht das Licht auf dem Video war, egal, wie sehr die Kamera gewackelt hatte, ich hatte Sean erkannt. Sie zeigten mir noch tausendmal die Aufnahme, vergrößerten das Gesicht, versuchten, so viel wie möglich per Bildbearbeitung rauszuholen. Ja, es war Sean.
»Du kannst mich gerne enterben, wenn das hier vorbei ist«, sagte ich zu Vater.
»Als ob das diese Spinner da draußen interessieren würde«, sagte Vater.
Matt stand mir bei. Er sagte all die netten Dinge, die ich hören musste. Von »Alles wird gut« bis hin zu »Du tust genau das Richtige«. Er machte sich Vorwürfe, weil er seinen Namen auf die Homepage geschrieben hatte.
»Das war nur, damit sie dir nicht auch noch so einen Scheiß schreiben wie ›Die Seite wird in meinem Browser aber nicht richtig angezeigt‹. Wenn ich gewusst hätte, was ich damit anrichte …«
»Man hätte es auch anders rausfinden können«, beruhigte ich ihn. Gab ihm innerlich einen beträchtlichen Teil der Schuld und schämte mich gleichzeitig dafür.
»Lass mich die Geldübergabe machen«, sagte er. »Es ist zu gefährlich. Du hast auf dem Video gesehen, wie sie mit Sean umgehen. Sie sind brutal.«
»Du hast eine Frau und zwei Kinder«, sagte ich. »Ich hab niemanden. Außer Sean.«
Morgen früh ist es so weit.
10.
Ausdauersport, hatte sein Therapeut gesagt, sei das beste Antidepressivum. Sein Psychiater hatte bestätigt, dass sich dadurch auch die Panikattacken und die Phobien herunterregeln ließen. Nichts, was die Pharmaindustrie gerne bestätigte, aber die Ergebnisse, die durch eine Sporttherapie erzielt wurden, seien weitaus besser, vor allem auf lange Sicht, als alles, was man mit Pillen erreichte.
Cedric hasste Sport. Er hatte schon zu Schulzeiten alles getan, um sich vom Unterricht befreien zu lassen. Mit den beiden Ärzten hatte er sich auf lange Spaziergänge geeinigt. Eine Stunde pro Tag, hatte der Psychiater gesagt, aber der Therapeut war der Meinung, dass man sich nicht überfordern solle. Dreimal in der Woche reiche für den Anfang vollkommen.
Dreimal in der Woche eine Stunde spazieren gehen. Bis jetzt hatte er es einmal in drei Monaten geschafft. Den Rückweg von Ben trat er mit dem Taxi an, dann fuhr er mit seinem eigenen Wagen los. Er fuhr über die Forth Road Bridge nach Fife. Es waren nicht viele Autos unterwegs, weil es wieder unentwegt schneite, und er fuhr nur sehr langsam. Er umklammerte das Lenkrad so fest, dass die Fingergelenke weiß hervortraten.
Fingergrundgelenke, man nummeriert sie durch, I ist der Daumen, II-V die anderen Finger. Die Fingergrundgelenke II-V sind anatomisch betrachtet Kugelgelenke. Wegen ihrer eingeschränkten Beweglichkeit sind sie, funktional gesehen, aber Eigelenke. Das obere Handgelenk ist ebenfalls ein Eigelenk. Das zwischen Atlas und Schädel auch.
Er fuhr an Kirkaldy vorbei, an der Küste entlang. Nicht zum einstigen Haus seines Vaters (wem gehörte es jetzt – vermutlich ihm?). Er hielt in dem Fischerörtchen Anstruther, fuhr weiter nach Crail, sah sich dort um, ohne auszusteigen, fuhr weiter nach Kingsbarns, wo er etwas langsamer wurde, ohne stehenzubleiben, fuhr weiter nach St Andrews, kurvte durch ein paar Straßen, fuhr weiter an einem Wohnwagenstellplatz vorbei, weiter in Richtung Largo, ließ den Weg, der zum Haus seines Vaters führte (von dem er nicht wusste, ob es ihm gehörte), links liegen, hielt erst wieder an einem Golfplatz kurz vor Leven, fuhr zurück nach Edinburgh, zu Isobel. Er fand einen Parkplatz am Grassmarket, ging die wenigen Meter zu Fuß durch den dreckigen Schnee. Cedric rief auf Isobels Handy an, weil ihre Klingel kaputt war. Sie öffnete die Tür.
»Da hat man mal Feierabend …«, sagte sie, lächelte aber. »Willst du reinkommen?«
Sie hatte eine Wohnung in der Candlemaker Row, einer kleinen Straße in der Old Town, die vom Grassmarket hoch zur George IV Bridge führte. Isobel wohnte direkt über einem Antiquariat. Die Zimmerwände waren schief, die Decken niedrig, die Türen klemmten und quietschten, aber sie liebte ihre Wohnung. Cedric traute sich erst, sie zu besuchen, seit ihn seine Medikamente stabilisierten. Er war zum zweiten Mal bei ihr zu Hause.
»Ich weiß, warum du hier bist«, sagte sie und ging vor in die Küche. Zu seiner Erleichterung war es dort sehr sauber, und er musste sich nicht überwinden, Platz zu nehmen. »Ich kann dir aber nichts zu den Ermittlungen sagen. Sie werden von Fife
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