Das zerbrochene Fenster: Thriller (German Edition)
mal siebzehn die Schule beendet habe und ausgezogen bin, um im Ausland meine Ausbildung zu machen. Sie hörte zu und erzählte auch ein wenig von sich, und es lenkte mich ab. Es half, mal etwas anderes zu hören, mal ein anderes Leben zu entdecken. Nicht lange, und ich fragte ihr Löcher in den Bauch, wollte alles wissen über ihre Kindheit mit zwei jüngeren Schwestern, mit Eltern, die bei Ärzte ohne Grenzen gearbeitet hatten, warum sie zur Polizei gegangen war, ob sie es dort als Frau schwer hatte, ob sie diskriminiert wurde, weil sie nicht weiß war, oder ob es ein Vorteil war. Ich fragte und fragte, und irgendwann merkte ich, dass ich mich seit Jahren nicht mehr so gut mit jemandem unterhalten hatte, abgesehen von meinem Bruder. Weil ich seit Jahren keine Freundin mehr hatte. Mir fehlte eine beste Freundin. Sean hatte es immer wieder zu mir gesagt, und ich verstand erst jetzt, warum ihm das komisch vorgekommen war. Mir hat jahrelang etwas gefehlt, und ich habe es nicht einmal gemerkt.
Jämmerlich.
Nach einer Weile kam Maria noch mal rein und brachte uns Pizza. »Kollege hat bestellt für alle«, sagte sie zu Nicky. »Muss ich nicht kochen. Aber muss auf Teller, nicht auf Pappschachtel.« Sie reichte uns Besteck und verschwand wieder. Wir lachten und aßen die Pizza mit den Händen.
Sie ging später runter zu ihren Kollegen, und ich legte mich schlafen. Ich hatte die Nacht davor kein Auge zugetan. Dann wachte ich um vier Uhr morgens auf und ging runter, weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte. In der dunklen Küche standen zwei Polizisten, von denen ich nicht wusste, ob ich sie schon gesehen hatte. Sie tranken Kaffee und unterhielten sich leise. Nicky lag auf der Couch und schlief. Die Techniker waren verschwun den. Ich stellte mich an das Panoramafenster und starrte in die Nacht.
Jetzt bin ich wieder in meinem Zimmer und schreibe alles auf.
Wenigstens ist Sean nicht tot.
Noch nicht.
Auszug aus Philippa Murrays Tagebuch
Montag, 16. 2. 2004
Nicky coacht mich für die Geldübergabe.
Ich habe mir das Video bestimmt noch fünfzig Mal angesehen. Es muss Sean sein. Die Bewegungen, die Kleidung, alles stimmt. Nicky sagt, das Video sei in einer alten Lagerhalle in Croydon gemacht worden. Man hätte die Halle beobachtet und keine Aktivitäten feststellen können. Die Entführer hatten sich ein neues Versteck gesucht, und die Spurensicherung war noch mit Auswerten beschäftigt.
»Lange haben sie sich dort nicht aufgehalten, so viel können wir schon sagen«, sagte Nicky.
»Vielleicht nur, um das Video zu drehen«, sagte ich und wurde ganz eifrig. »Weil sie dort, wo sie Sean gefangen halten, kein Video machen können … weil Sie sonst wüssten, wo sie sind … oder?«
Nicky legte mir eine Hand auf den Arm. »Pippa, wir tun alles.«
Hätten Reese und Mahoney ihren Job von Anfang an richtig gemacht, statt mir dauernd zu sagen, dass jeder Erwachsene das Recht hatte, einfach so zu verschwinden, wann immer es ihm passte, dann wäre es nie so weit gekommen.
Ich habe Reese angerufen. Er wusste längst Bescheid, natürlich. Hatte auch nur beruhigende Phrasen drauf. »Ganz ehrlich, Ms Murray«, sagte er zu mir. »Scotland Yard hin oder her, die können auch nicht zaubern. Ich habe da keine große Hoffnung. Für mich sieht das nach jemandem aus, der sich an die Sache dranhängen will. Mit Sean hat das wahrscheinlich gar nichts zu tun.«
»Ich habe Sean auf dem Video gesehen«, sagte ich.
»Hat man Ihnen ein anderes Lebenszeichen geschickt? Nein. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte nur verhindern, dass Sie hinterher komplett zusammenbrechen.«
Erfrischend, dieser Typ. Immer wieder.
Natürlich hatte Vater nach weiteren Lebenszeichen gefragt. Per Mail. Sie wurde ihm von der Polizei diktiert, sonst hätte er wohl geschrieben: »Behaltet den Bastard, bringt ihn von mir aus um, mir ist er keinen Penny wert.«
Als Antwort kam ein paar Stunden später ein weiteres Video. Es war noch verwackelter, noch dunkler. Jemand saß gefesselt auf einem Stuhl, zu hören war Keuchen und Stöhnen. Jemand anderes – wieder maskiert – ging auf ihn zu, riss ihm die Kapuze vom Gesicht, riss ihm den Kopf an den Haaren nach hinten, sodass er in die Kamera schauen musste.
Schnitt.
Das war’s.
»Ist das Sean Butler?«, fragte Nicky.
»Ja«, sagte ich.
»Wie willst du denn darauf was erkennen?« Vaters Stimme kippte wieder ins Hysterische.
»Es ist Sean. Ich kenn ihn nun wirklich gut genug.«
»Sie sind sich
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