Das zerbrochene Fenster: Thriller (German Edition)
stehen auch schlecht, wer will schon ein krankes Kind. Was wird nun aus dem Jungen …« Er wandte sich ab und sah aus dem Fenster. Kein Blick auf den Zuger See, nur ein weiteres Bürogebäude mit Beton, Stahl, Glas und vielen Briefkästen. »Was wird aus so einem Kind …«, murmelte er noch einmal und schien ganz zu vergessen, dass er nicht allein war.
Ben wartete ein paar Minuten, in denen er ihn genau beobachtete. Dann sagte er leise: »Sie hatten selbst mal ein krankes Kind, und Sie haben zugelassen, dass Ihre damalige Frau es verleugnet hat. Sie haben da etwas wiedergutzumachen. Wir wissen beide, wessen Labor es war, in dem William gezeugt wurde, und unter welchen Umständen. Dass Sie und Shannon heute noch mit diesen Geschäften Geld schaufeln, ist mir vollkommen egal. Aber wenn Ihnen etwas einfällt, wie man diesem kleinen Jungen helfen kann – und ich rede jetzt nicht von Adressen für Spezialisten und Therapeuten. Wenn Ihnen also irgendwas einfällt, dann machen Sie wenigstens einen kleinen Teil der Scheiße, die Sie in Ihrem Leben fabriziert haben, wieder gut.«
Andrew sah ihn nicht einmal an, er starrte weiter aus dem Fenster. Aber Ben wusste, dass er jedes Wort gehört und verstanden hatte. Er stand auf und verließ das Büro ohne ein weiteres Wort.
Als er im Zug zum Flughafen saß, schlug ihm das Herz immer noch bis zum Hals. Er war aufgewühlt, aber er fühlte sich gut. Auch wenn er keinen Schritt weitergekommen war, was Lillians Mord anging. Aber er hatte endlich die Gelegenheit gehabt, Andrew Chandler-Lytton dazu zu bringen, sich wirklich scheiße zu fühlen.
Erst am Flughafen fiel ihm ein, was er für ein Idiot war. Eine der wichtigsten Fragen hatte er gar nicht gestellt: Warum wohnten Andrew und seine Frau nur wenige hundert Meter von der Villa entfernt, in der Darney ermordet worden war?
Ben fluchte. Dachte darüber nach, ob er zurückfahren sollte. Einen Moment lang war er überzeugt davon, dass er genau das tun musste. Dann dachte er: Wozu? Was würde ihm Chandler-Lytton schon verraten? Entweder er fand selbst etwas heraus, oder es würde ein ewiges Geheimnis bleiben. Ben schrieb seinem Kontaktmann eine SMS und bat ihn, etwas über den Hauskauf herauszufinden. Wann, durch wen, wie war es abgelaufen. Er schuldete dem Schweizer mittlerweile mehr Gefallen, als er in diesem Leben noch erwidern konnte.
Nachdem er für den Rückflug eingecheckt hatte, rief er auf seinem eigenen Festnetzanschluss an. Sein Vater ging dran.
»Jaaa?«
»Ich bin’s. Alles okay bei dir?«
»Klar. D. L. hat seine Freunde zu Besuch. Sie hängen ein bisschen bei uns rum, ist doch okay?«
Ben stellte sich Brandlöcher im Teppich, Chipskrümel auf dem Sofa und verschüttetes Bier vor. »Kein Problem. Hab ein Auge auf sie. Ich bin in ein paar Stunden zu Hause.«
Kaum hatte er aufgelegt, ging ein resigniertes Stöhnen durch die Reihen: Auf dem Monitor war jetzt zu lesen, dass der Flug ausfiel.
Notizzettel in Philippa Murrays Tagebuch
Montag, 3. 1. 2005
Wir sitzen am Flughafen von Phuket und warten darauf, nach Hause zu fliegen. Nur weg …
Michaels Bruder James und seine Frau sind rund um die Uhr im Einsatz, um den Tsunami-Überlebenden zu helfen. Wir brauchen keine Hilfe. Nur einen Flug zurück.
Der Flughafen war nur kurz geschlossen, weil am Tag der Katastrophe die Landebahn überschwemmt war. Es landen so gut wie keine Touristen mehr. Ein paar Zyniker, die sich freuen, dass jetzt die Hotels, die noch stehen, billiger sind als sonst. Die meisten kommen, um zu helfen. Man sieht es ihnen an. Ernste Gesichter, keine Urlaubskleidung. Die Abreise ist chaotisch, weil seit Tagen alle, die hier nichts mehr zu suchen haben (oder sollte es heißen: die hier niemanden mehr zu suchen haben), das Land verlassen wollen.
Eine Minute waren wir vom Tod entfernt. Wir fuhren nur eine Straße entlang, als die Welle keine hundert Meter vor uns alles verschlang. Das Wasser ging zurück, und die Straße war weg. Ich wollte den Wagen wenden und zurückfahren, aber Michael schrie, dass wir rausmüssten. Er zerrte mich hinter sich her einen Hügel hinauf, und die zweite Welle war längst da, als ich mich umdrehte.
Als das Wasser weg war, lagen überall Leichen. Ich denke, die Menschen müssen geschrien haben, aber ich erinnere mich an kein einziges Geräusch. Ich habe nur Stille im Kopf, wenn ich daran zurückdenke. Lähmende, drückende Stille.
In allen Nachrichten ist die Rede von vielen tausend Toten, die Zahl ändert sich
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