Das zerbrochene Fenster: Thriller (German Edition)
Ich meine, sicher hätte sich Lillian doch bei meiner Frau gemeldet. Immerhin hat sie sie während der Schwangerschaft betreut … Was hat der Junge denn?«
Selbst jetzt behielt Andrew die Nerven, wählte seine Worte mit Bedacht. Ben entschied sich dafür, noch eine kleine Bombe zu zünden, und wieder behielt er Andrew genau im Blick. »Eine Erbkrankheit.«
Andrew öffnete den Mund, war aber schlau genug, nichts zu sagen. Ben fragte sich, was ihm wohl auf der Zunge gelegen hatte. Etwa: »Aber wir haben ihn doch auf alle Krankheiten untersucht!«? Stattdessen sagte er: »Das ist ja furchtbar. Welche Krankheit ist es?«
»Das Usher-Syndrom.«
Er sah, wie der Mann sich entspannte. Usher-Syndrom, darauf hatte er nicht getestet, dazu hatte es keinen Grund gegeben. Er hatte also keinen Fehler gemacht, nicht gegenüber seiner Auftraggeberin Lillian Darney. Dass diese keinen Anspruch mehr auf das Erbe ihres Mannes gehabt hätte, konnte ihm egal sein. Vielleicht hatte sie ihn und seine Frau bei der Anamnese angelogen, die Krankheit in der Familiengeschichte verschwiegen. Vielleicht hatte sie nichts davon gewusst. Jedenfalls hätte sie ihn nie zur Verantwortung ziehen können. Rechtlich sowieso nicht, weil die Auswahl von Embryonen nach Kriterien wie Geschlecht ungesetzlich war. Aber sie hätte ihn auch nie damit erpressen oder unter Druck setzen können.
Andrews Reaktion zeigte Ben, dass sie es auch nie getan hatte.
Er war völlig umsonst in die Schweiz geflogen. Er hatte es geahnt.
»Ich wusste gar nicht, dass die Veranlagung vorhanden war, weder bei den Darneys noch in Lillians Familie.«
»Was hat Sie Ihnen eigentlich über ihre Familie erzählt?«
Er zuckte die Schultern. »Nichts von Bedeutung. Die Eltern haben sich früh getrennt, der Vater ist zurück nach Schweden … Keine Geschwister … Kein Wort von Krankheiten. Wirklich nicht.«
»Und sie hat Sie oder Ihre Frau nie kontaktiert, auch nicht, um sich Hilfe und Rat zu holen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich frage gerne noch mal meine Frau, aber ich bin sicher, sie hätte es mir erzählt.«
Davon war Ben auch überzeugt.
»Ben, wer kümmert sich denn jetzt um den Jungen? Er braucht Therapeuten, die mit ihm arbeiten. Er muss Zeichensprache lernen, von den Lippen ablesen … solange er noch sehen kann … Brauchen Sie Adressen? Namen von fähigen Ärzten, Fachpersonal, Beratungsstellen?« Er klang ehrlich besorgt.
»Ich richte es Cedric aus«, sagte Ben. »Soweit ich weiß, kommt Lillians Mutter, um den Jungen zu holen.«
»Lillians Mutter? «
»Okay, das klingt, als gäbe es da etwas, das ich wissen sollte.«
»Ich sage das nur im Interesse des Jungen. Und Sie haben es nicht von mir erfahren.«
»Alles klar.«
»Lillians Mutter ist schwere Alkoholikerin. Sie hat schon getrunken, bevor sie mit ihr schwanger war. Lillian hatte deshalb Angst, irgendetwas abbekommen zu haben. Irgendeinen bleibenden genetischen Schaden zu haben, den sie weitergeben könnte. Das war Unsinn. Sie war vollkommen gesund. Dass sie Trägerin des Usher-Syndroms war, hat damit allerdings nichts zu tun. Und war auch nicht zu vermuten.«
»Ich nehme an, Lord Darney hat nichts Genaues über seine Schwiegermutter gewusst.«
»Exakt. Ich denke, selbst, wenn die Frau in den letzten Jahren einen Entzug gemacht hat und seitdem trocken ist, wäre es keine gute Idee, ihr ein kleines Kind, zumal mit einer Behinderung, um die man sich intensiv kümmern muss, anzuvertrauen. Eine Woche, und sie hinge wieder an der Flasche, das wollen wir ihr doch nicht wünschen, und dem Kind schon gar nicht. Nach allem, was Lillian erzählt hat, hat ihre Mutter auch Tendenzen einer bipolaren Störung, noch ein Grund, das Kind nicht in ihre Nähe zu lassen, wer weiß, ob sie in Behandlung ist. Das alles würde ich so nie öffentlich sagen, haben Sie verstanden?«
Ben wusste, was er meinte. Der nächste Gedankenschritt wäre: Sollen Frauen mit psychischen Problemen überhaupt Kinder bekommen, Kinder erziehen dürfen? Ein heikles Thema, ein viel zu heißes Eisen, nichts, wo der Name Chandler-Lytton genannt werden sollte. Mit ein bisschen Pech waren mehr als die Hälfte der Patientinnen, denen seine Frau »half«, die richtigen Kinder zu kriegen, depressiv, bipolar oder Borderliner, dachte Ben.
»Wer könnte sich sonst noch kümmern?«
»Es gibt keine anderen Verwandten«, sagte Ben. »Außer …«
Andrew lachte. »Vom Regen in die Traufe. Was soll man dem Jungen da wünschen? Die Chancen für eine Adoption
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