Das Ziel ist der Weg
schlagen in einem oder zwei Kilometer Entfernung in den Boden. Ich beschleunige aufs Äußerste, auf über sechs Kilometer pro Stunde. Ich spüre den hohen Puls an meiner Halsschlagader. Schritt, Schritt, Schritt, Schritt. Schritt für Schritt laufe ich mich in eine rageartige Trance. Plötzlich lösen sich aus der Tiefe meiner Seele längst verdrängte schmerzvolle Momente. Jeder Schritt ein Wutausbruch in den Boden. Abrupt bleibe ich irgendwann stehen und lache aus vollem Hals. Ein wenig komisch ist das alles schon. Meine Güte, nehme ich mich wichtig.
Es dämmert schon, als ich den Tracol im Regen erreiche. Der Wind weht mir kalt ins Gesicht, trostlos hier oben. Ich bedaure ein wenig, dass es nur noch gute zwei Tage bis Le Puy sind. Ich hatte gehofft, nochmals auf meine beiden Pilgerinnen zu treffen. Die werden wohl weg sein — schade. Das Gasthaus duckt sich vor dem Wind weg in die Hügel. Nun denn. Wärme umfängt mich, als ich eintrete. Glück gehabt, es gibt noch ein Bett für mich. Wäsche waschen, Tagebuch schreiben, die abendlichen Verrichtungen eines Pilgers. Im Gastraum soll es noch etwas zu essen geben — und da sitzen sie: Ingrid und Anita. Zuerst freudiges Erstaunen, dann zum dritten Mal großes Hallo! Diesmal notiere ich mir ihre Adressen. Vielleicht werden sie überrascht sein, wenn die Postkarten aus Santiago tatsächlich bei ihnen eintreffen.
Ich hab’s geschafft! Ich bin rechtzeitig da. Von Santiago kann mich jetzt nicht mehr viel fernhalten. In einem guten Monat bin ich nach Le Puy gelaufen, die restlichen beiden Monate werden bis Santiago reichen. Die schwarze Madonna schaut mich trotz meiner so weltlichen Gedanken immer noch unbewegt heilig an. Kathedralenluft. Am Abend sitze ich zufällig mit einem Pilger in einer Pizzeria, er hatte sich einfach zu mir gesetzt. Olivier heißt er, er kommt von der Insel La Reunion und will morgen seine Pilgerschaft beginnen. Wie das wohl wird? Mit den vielen Pilgern? Bisher einen Monat allein und nun den Weg mit anderen teilen müssen? Oder dürfen? »On verra...« — »Man wird sehen...« Die Nacht und ein Bett im Franziskanerinnenkloster erwarten mich. Ich hab’s geschafft! Ich bin rechtzeitig da. Von Santiago hält mich jetzt nicht mehr viel fern.
Seelenwandel
Von Le Puy nach Saint-Jean
»Wenn man die Ruhe nicht in sich selbst findet, ist es umsonst, sie anderswo zu suchen.«
François de La Rochefoucauld
Wandlung erfahren: Wenn das Aufbruchmoment hinter den Pilgern liegt, wenn sie sich seelisch aus ihren bisherigen Alltagsstrukturen gelöst haben, wenn sie sich in das Pilgerleben sowohl körperlich als auch geistig eingelebt haben, dann ist die Zeit eigentlicher bewusster seelischer Veränderung gekommen. Verblasst sind die anfänglichen Schmerzen des schweren Rucksacks, die Blasen an den Füßen, die Unsicherheit im Finden von Weg, Nahrung und Unterkunft. Der Raum zur Neuerung öffnet sich, die Euphorie des Anfangs hilft nicht mehr über »Unwegbarkeiten« hinweg. Was Pilger auf den Jakobsweg gerufen hat, drängt mit aller Kraft in ihr Bewusstsein und verlangt nach Wandlung.
Ohne den Zauber des Anfangs erleben Pilger das »Auf-sich-reduziert-Sein« noch direkter und bewusster: Sie sind wirklich nur mit dem belastet, was sie (er-)tragen können. Sie erfahren die menschlichen Grundbedürfnisse aus einer Nähe, die ihnen ihr Menschsein unmittelbar macht: echter Hunger, echter Durst, echte Erschöpfung, echter Schmerz. Ihr Leben besteht aus ganz einfachen Verrichtungen: Essen. Trinken. Schlafen. Gehen. Meditation.
Der meditative Rhythmus des Gehens löst die Spannungen und Blockaden der Seele auf wie stetig unterspülende Wellen des Meeres einen Küstenfelsen. Es ist ein Rhythmus entstanden, in dem Meditation und Gehen eins sind — in dem alles eins ist: der Atem, der Herzschlag, die Schritte, das Links und Rechts des Weges, das Auf und Ab des Horizonts, die Hügel und Wälder der Landschaft, der Auf- und Niedergang der Sonne, der abrupte Wechsel von grellem Tageslicht und dem Dunkel des Kapelleninneren am Wegesrand. Durch diese Einheitserfahrung, durch diesen inneren gegenstandslosen Frieden schimmert plötzlich ein ureigener Rhythmus, eine ureigene Empfindung. Intensive Nähe zu sich selbst — mit einem Mal erfahren Grundkonflikte aus diesem Einssein mit dem Göttlichen, der Natur und sich selbst Lösungen, die der Ich-fixierte Verstand nicht hätte finden können. Vor der »Fülle des Augenblicks«, dem spirituellen Reichtum sogar
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